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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

394–396

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Németh, Balázs

Titel/Untertitel:

»Š Gott schläft nicht, er blinzelt uns zu Š«Evangelisch-reformierte Lebensgestaltung zwischen Kontinuität und Wandel ­ Ungarn im 16. Jahrhundert als Beispiel.

Verlag:

Frankfurt a. M-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien 2003. 297 S. m. Abb. 8° = Beiträge zur Volkskunde und Kulturanalyse. Neue Folge, 3. Kart. Euro 45,50. 3-631-50406-3.

Rezensent:

Markus Hein

Balázs Németh, pensionierter Pfarrer der Evangelischen Kirche Helvetischen Bekenntnisses in Österreich, stammt aus dem kleinen, damals reformiert geprägten ungarischen Ort Nagykörös, wo er schon in seiner Kindheit (9) die Spezifika unterschiedlicher konfessioneller Lebensgestaltung kennen lernte. Sein Leben lang begleitete ihn diese Fragestellung. Die Untersuchung, die 2001 in Wien am Institut für europäische Ethnologie als Promotionsschrift unter Betreuung von Olaf Bockhorn angenommen wurde, ist nun das Ergebnis der intensiven Beschäftigung damit. Sie versucht, die Verbindung und vor allem die Abhängigkeit zwischen Glauben und daraus resultierender Lebensgestaltung deutlich werden zu lassen. Schwerpunkt ist die reformierte Kirche Ungarns in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s.

Neben Agenden, Katechismen und Gesangbüchern sind es Predigten besonders herausragender Gestalten (Péter Méliusz Juhász [1536­1572], György Kultsár [Ý 1577], Péter Károly [1530­1591], Gáspár Decsi [Ý 1597] und Ambrus Derecskei [ca. 1550­1603]) der reformierten Tradition aus dem 16. Jh., die herangezogen werden. Diese Quellen werden sorgfältig vorgestellt, allerdings bleibt N. die Begründung seiner Quellenauswahl ebenso schuldig wie einen mehr vergleichenden Blick auf die beiden anderen prägenden Konfessionen, das Luthertum und die römisch-katholische Kirche, wobei gerade Letztere eigentlich den konkreten Anlass für ihn gab, sich mit der Problematik zu beschäftigen.

Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der reformatorischen Kirche im Ungarn des 16. Jh.s werden die Quellen in vier Kapiteln jeweils befragt, was sie für die Themenkreise »Übergänge im Leben« (Geburt, Taufe, Menschwerdung ­ Verlobung, Trauung; Ehe, Familie, Sexualität, Scheidung ­ Tod, Begräbnis, Jenseitsvorstellung), »Kultivierung des Lebens« (Festkultur, Alltagskultur, Kultur der Über- und Unterordnung), »Struktur des geistigen Rückhaltes im Leben ­ die Kirche« (die Kirche als Gemeinschaft und als Erzieherin) sowie »Das Weltbild« (Türkenbild und Apokalyptik sowie Volksglaube im Zusammenhang mit Volksmedizin und Hexenfrage) aussagen.

Auf Fußnoten verzichtet N. An die Schlussfolgerungen schließen sich Anmerkungen an, die im Wesentlichen Nachweise für im Text vor allem indirekt gebrachte Zitate sind. Es folgt ein gut zusammengestelltes Literatur- und Quellenverzeichnis. Register gibt es leider nicht.

Der Beitrag der reformierten Kirchen Ungarns zur europäischen Reformations- und Kulturgeschichte sei die Lebensgestaltung unter der speziellen Komplexität der doppelten Spannung zwischen Kontinuität und Wandel einerseits und zwischen individueller Freiheit und Verantwortung für die Gesellschaft andererseits, so heißt es in den Schlussfolgerungen (237). Inwieweit dies aber ein ungarnspezifischer Beitrag ist oder eher das Gesamtergebnis reformatorischen Geschehens im 16. Jh. auch in anderen Gebieten, wird nicht erörtert. Wenn ungarische Eigenheiten oder Spezifika ungarischer Lebensgestaltung doch eher beiläufig erwähnt werden, so entsteht trotzdem ein lebendiges Bild, in welcher Weise auch das ungarische Leben im 16. Jh. bis hin in den Alltag von reformierter Gestaltung geprägt war. Die von N. angeführten Spannungen werden immer wieder benannt und mit Beispielen belegt.

Wiederholt betont N., dass in Ungarn die These Max Webers von der engen Verbindung zwischen der Etablierung der reformierten Kirche und der Herausbildung des Kapitalismus (vor allem in seiner negativ konnotierten Form) nicht anzuwenden sei (147 u. ö.). Die aufkommende Trennung von Arbeit und Besitz z. B. wird in Ungarn ­ vor allem in den agrarisch geprägten Gebieten ­ zurückgewiesen, bis dahin, dass Geldgeschäfte nur mit einer Teilung sowohl des Gewinnes als auch des Verlustes für beide am Geschäft beteiligten Seiten getätigt werden sollten und so dem Wucher entgegengetreten werden sollte (127). Die Verpflichtung, die im Besitz gesehen wurde, führte oft zu harten Zurechtweisungen auch der eigenen Obrigkeit durch die Kirche.

Die Rolle der reformatorischen ­ vor allem der reformierten ­ Kirchen bei der Herausbildung der modernen Individualisierung der Gesellschaft liegt N. besonders am Herzen. Er verdeutlicht diesen Beitrag zum »Prozess der Individualisierung und einer im engeren Sinne verstandenen Familiarisierung« (37) anhand der Taufpraxis. Das Brauchtum und die vor allem das Gemeinwesen im Blick habende Tradition verlieren an Bedeutung, dafür rückt der einzelne Mensch unabhängig von seiner Herkunft in den Vordergrund. So gibt es z. B. explizit keine Ablehnung der Taufe eines unehelichen Kindes mehr, da die individuelle Prädestination nicht mit der bisherigen Sippenhaftung vereinbar ist.

Die Auseinandersetzung mit den Themen Tod, Begräbnis und Jenseitsvorstellung verdeutlich vor allem eines: Auch die ungarischen Reformierten mussten mit der Angst vor dem Tode umgehen, ohne dass dies zur prägenden Grundlage einer Glaubenspraxis führen durfte. Christus hat den Tod ein für allemal besiegt. Der Ablehnung der Letzten Ölung wurde die Möglichkeit des »verbalen Trost[es] als echte Alternative« (79) gegenübergestellt. Alle Magie und aller Aberglaube im Zusammenhang mit der Angst vor dem Tode und Fegefeuer wurden abgelehnt. Lebende sollten für Lebende beten und nicht für die Toten.

Die genannten Themenkreise werden mal mit mehr, mal mit weniger direktem Bezug zu ungarischen Eigenheiten abgehandelt. Erwähnt sei noch die im Zusammenhang mit der Bedrohung bzw. Besetzung durch die Türken stehende Geschichtsdeutung des 16. Jh.s: Die Besetzung wurde als Folge der zuvor üblichen Heiligenverehrung im Land gesehen, weshalb man auch den den Heiligenkreis festlegenden neuen Kalender ablehnte (93). Die Festtagsanzahl reduzierte sich auf Grund der Ablehnung der Heiligen von 53 auf neun.

Insgesamt ist das Buch ein Überblick über die reformierte Lebensgestaltung. Ungarn dient als Beispiel und manchmal hätte man sich das Spezifische dieses Beispieles konkreter gewünscht. Die Zurückhaltung bei der Zitation der herangezogenen Quellen macht sich hierbei besonders nachteilig bemerkbar. Vergleiche zu den ungarischen Lutheranern und den nichtungarischen Reformierten wären an manchen Stellen sicher hilfreich gewesen. So ist der Leser auf das eigene Wissen angewiesen. Das gleiche gilt für den von N. an mehreren Stellen angedeuteten Unterschied zwischen Ost- und Westungarn, dessen Spuren deutlicher hätten gezeigt werden können, wie es z. B. im Hinblick auf die Altarfrage geschieht (112). In Ostungarn war diese erst strittig, ehe man zu einer radikalen Lösung (Entfernung) überging. Durch das enge Nebeneinander von Lutheranern, Reformierten und römischen Katholiken erfuhren im Ungarn des 16. Jh.s manche Fragen ein behutsameres Vorgehen, andere aber eine Radikalisierung.

Die Stärke des Buches liegt in der Fülle der dargestellten Einzelheiten der reformierten (ungarischen) Lebensführung vor dem Hintergrund der Schriften Zwinglis und Calvins. Wo die ungarischen Schriften und Predigten anders akzentuierten, wird dies genannt. Da das leider meist nur mit Hinweis auf die entsprechende Schrift oder Person geschieht, ohne direkt Texte zu zitieren, bleibt man aber auf das Urteil N.s verwiesen, weil die angegebenen Quellentexte in der Regel für den Leser ­ zumal den deutschen ­ nicht erreichbar sind.