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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

386–388

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Nicola

Titel/Untertitel:

Der Tag des Herrn. Zur Gerichtserwartung im Neuen Testament auf ihrem alttestamentlichen und frühjüdischen Hintergrund.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. XII, 404 S. 8° = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 96. Geb. Euro 64,00. ISBN 3-7887-1888-9.

Rezensent:

Matthias Konradt

Die vorliegende Monographie fußt auf einer von Peter von der Osten-Sacken betreuten, 2001 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität angenommenen Dissertation. Im einleitenden Kapitel (1­27) steckt die Vfn. zunächst den forschungs- und theologiegeschichtlichen Kontext ihrer Untersuchung ab, indem sie die Randstellung verzeichnet, die der Gerichtsthematik in der Theologie allgemein wie in der neutestamentlichen Forschung im Besonderen seit geraumer Zeit zukomme und gegenüber der sich erst in jüngster Zeit eine Wende andeute. Mit Hinweisen auf den Einfluss der liberalen Theologie des 19. Jh.s, das Gewicht der reformatorischen Rechtfertigungslehre, »die enorme ðtraditionsbildendeÐ Kraft der Bultmannschen Theologie« (7) und schließlich auf ein verbreitetes Abgrenzungspathos gegenüber dem Judentum, das sich im Falle der Gerichtserwartung auf die Distanzierung von der frühjüdischen Apokalyptik zuspitzt, sucht die Vfn. den theologiegeschichtlichen Kontext dieser Marginalisierung zu benennen. Mit ihrer Untersuchung zur Rede vom »Tag des Herrn« als einem »charakteristischen Vorstellungskomplex« (17) will sie einen »ersten Beitrag« (ebd.) leisten, um der zur Gerichtsthematik im Neuen Testament entstandenen Forschungslücke zu begegnen. Die Untersuchungen zu den einzelnen Texten sind dabei durch zwei einander ergänzende Fragerichtungen gekennzeichnet: Neben die Erörterung von theologischer Intention und Funktion der Rede vom Tag des Herrn im jeweiligen Kontext tritt die Verortung der einzelnen Aussagen »im Ganzen des Vorstellungskreises vom ðTag des HerrnЫ (27).

Die Vfn. bietet zunächst in zwei größeren Kapiteln einen Überblick über die alttestamentlichen Aussagen (Kapitel 1: 28­85) ­ sie bezieht sich dabei allein auf den masoretischen Text, eine Untersuchung der LXX fehlt ­ und über die einschlägigen frühjüdischen Passagen, namentlich äthHen, Jub, Qumrantexte (primär 1 QM), TestXII, PsSal und 4Esr (Kapitel 2: 86­154). In beiden Kapiteln folgt auf die Analyse der einzelnen Texte mit dem Versuch einer zusammenfassenden Interpretation des Materials ein synthetischer Arbeitsschritt, durch den neben der Differenzierung von Haupt- und Nebenakzenten zugleich Entwicklungslinien erkennbar werden sollen. Die Ausführungen zu den alttestamentlichen und frühjüdischen Texten bringen zwar die Forschung zu diesen selbst nicht weiter, bieten aber einen soliden Überblick und erfüllen damit gut die Funktion, den Hintergrund für die neutestamentlichen Aussagen bereitzustellen. Entgegen einer anthropozentrischen Perspektive, die auf die Frage der Zuteilung von Heil und Unheil fokussiert ist, hebt die Vfn. als Grundgedanken die Durchsetzung der Herrschaft Gottes hervor. Von diesem theozentrischen Grundgedanken ausgehend könne »das Thema des Gottestages jedoch in verschiedenen Zeiten und Situationen je neu entfaltet werden: als vergangenes oder zukünftiges Geschehen, als Gericht oder Heil, als Jhwhs Handeln an Israel, den Völkern oder der ganzen Welt« (72). Im Frühjudentum wird zwar die Wendung »Tag des Gerichts« dominant (90), doch bleibe die theozentrische Ausrichtung des Motivs davon unberührt (144­149). Kennzeichnend für das Frühjudentum sei ferner die Eschatologisierung der Vorstellung, die mit der Dualisierung des Endgeschicks durch das Gegenüber von Gerechten und Frevlern einhergeht. Die Vfn. betont in diesem Zusammenhang, »daß fast alle diese Texte aus der Perspektive von Gruppen formuliert sind, die gegenwärtig ðum Gottes willenÐ einer identitätsbedrohenden Konfliktsituation ausgesetzt sind« (129). Leitend sei hier der Trost für die Gerechten.

Im dritten Hauptkapitel schreitet die Vfn. dann geordnet nach Textbereichen die Vielfalt der neutestamentlichen Belege ab (1. paulinische Briefe [155­214], 2. synoptische Evangelien [215­279], 3. Apostelgeschichte [279­284], 4. JohEv und 1Joh [284­308], 5. Hebr [308­320], 6. übrige Briefe und Offb [320­355]). Gegenüber dem von der Vfn. in ihrer Einleitung vermerkten Abgrenzungspathos älterer Forschung zeichnet sich die Studie hier dadurch aus, dass die Vfn. die Kontinuität zwischen den alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen und den neutestamentlichen Texten betont (zusammenfassend 357­365), ohne frühchristliche Neuakzentuierungen zu übergehen, die aus dem »Rückbezug auf das Christusgeschehen« (372) resultieren.

Eine detaillierte Würdigung der einzelnen Textanalysen ist hier schon wegen der Fülle der behandelten Texte nicht möglich. Hinzuweisen ist aber auf eine methodische Grundproblematik der Studie, die an zwei Beispielen illustriert sei. Zu 1Thess 5,2 vermerkt die Vfn., dass die bedrohliche Seite des »Tags des Herrn« nicht nur als allein den loipoi geltende Kontrastfolie für das Heil der Christen zu verstehen sei. Vielmehr würden auch diese sich selbst »durch Schlafen und Betrunkenheit ... wieder in die Menge derer einreihen, denen der ðTag des HerrnÐ Verderben bringt« (167). Darin ist im Ansatz durchaus Richtiges gesehen ­ die Vfn. betont auch andernorts die Möglichkeit, dass Christen das ihnen zugesprochene Heil wieder verlieren können ­, doch der Ton liegt hier darauf, die Christen ihres privilegierten Status zu vergewissern, um sie angesichts von Anfeindungen und Verspottung ihrer eschatologischen Weltsicht in der Umwelt zum Durchhalten ihrer Konversionsentscheidung zu ermutigen. Exemplarisch zeigt sich hier als eine Grundproblematik der Arbeit, dass für eine sorgfältige Analyse der jeweiligen Kommunikationssituation und für die Einzeichnung der untersuchten Textsegmente in die rhetorische Gesamtstrategie der jeweiligen Schrift angesichts der Fülle des Textmaterials kein ausreichender Raum bleibt. Ferner wird 1Thess 5 nicht in den Kontext der übrigen »Gerichtstexte« des 1Thess eingestellt.

Letztere Problemanzeige lässt sich anhand der Ausführungen zur Rede vom Gerichtstag in den matthäischen Belegen weiter illustrieren. Die Vfn. vermerkt im Zuge der Auslegung von Mt 7,21­23 selbst, dass das hemera-Motiv in einer ganzen Reihe verwandter Texte im MtEv fehlt (222 f.), so z. B. in Mt 25,31­46. Von einer gezielten Setzung bzw. Auslassung des Motivs wird man hier schwerlich reden können. Ist dann aber die Fokussierung auf ein solches Einzelmotiv methodisch zu rechtfertigen? Handelt es sich ­ im Blick auf die neutestamentliche Zeit ­ um ein von anderen auf das Gericht bzw. die Realisierung des eschatologischen Heils bezogenen Aussageweisen sinnvoll isolierbares Motiv? Oder müsste nicht jeweils umfassender die Gerichts-/Heilserwartung einer jeden Schrift analysiert werden? In solch einem Rahmen könnte dann gegebenenfalls die etwaige spezifische Bedeutung und Leistung des Tag-Motivs präziser profiliert werden.

In der Schlussbetrachtung (356­377) stellt die Vfn. zum einen mit der personalen Dimension des Geschehens (»der ðTagÐ ist wesentlich von Gott oder von Christus als seinem ðHerrnÐ geprägt« [356 f.]) und mit dem »Aspekt der Zeitansage« (357) zwei Konstanten in der Rede vom »Tag des Herrn« heraus. Zum anderen nimmt sie den im Eingangskapitel exponierten theologischen Diskurs über die Gerichtsthematik wieder auf.

Die Vfn. hat eine theologisch engagierte und exegetisch solide gearbeitete Studie vorgelegt. Der exegetische Erkenntnisgewinn zu den einzelnen Texten ist begrenzt; ihren Wert hat die Studie vor allem in der Zusammenschau der Einzelbefunde. Um die Erörterung der Gerichtsthematik im Neuen Testament weiter voranzutreiben, müssten Detailstudien zu den einzelnen Textbereichen folgen, in denen das hemera-Motiv dann »nur« ein Teilbereich sein wird.