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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

363 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dohmen, Christoph u. Günter Stemberger

Titel/Untertitel:

Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 216 S. gr. 8°. Kohlhammer Studienbücher Theologie, 1, 2. Kart. DM 39,80. ISBN 3-17-012038-7.

Rezensent:

Jürgen Ebach

Der von dem Judaisten G. Stemberger und dem katholischen Alttestamentler Chr. Dohmen verfaßte Band steht in der Reihe der "Studienbücher Theologie" für den Bereich der biblischen Hermeneutik. Tatsächlich erfüllt er die Aufgabe der Einführung (in vieler Hinsicht mehr als einer Einführung) in zentrale Fragen biblischer Hermeneutik, und zwar im Blick auf das Verhältnis von "Jüdischer Bibel" und (christlichem) "Alten Testament". Beide Autoren haben sich bereits in früheren Überblickswerken zu den Themen geäußert, die sie auch im vorliegenden Band bearbeitet haben. So sind Wiederholungen und Doppelungen unvermeidlich, doch enthalten die Beiträge dieses Bandes genug Neues und Eigenständiges, um sein Erscheinen in dieser Form voll zu rechtfertigen.

Die Hälfte des Bandes nimmt der von Stemberger verfaßte Überblick über die Hermeneutik der Jüdischen Bibel ein (23-132). Der Autor legt hier eine kundige, hilfreiche und in manchen Fragestellungen und vor allem Beispielen über die entsprechenden Abschnitte in seinen (bei Beck, München erschienenen) Werken über Talmud und Midrasch hinausreichende Gesamtdarstellung der jüdischen Bibelauslegung vor, beginnend mit innerbiblischer Auslegung, Josephus, Qumran, Septuaginta, Philo über die rabbinische Schriftauslegung bis zur jüdischen Auslegung im Mittelalter. (Wenig hilfreich sind m. E. gelegentliche Bemerkungen, die die rabbinische Exegese an den Plausibilitätsstrukturen gegenwärtiger historisch-kritischer Exegese messen und sie so zuweilen geradezu ins Exotische schieben.) Aus Sicht des Rez. sind unter den knappen und (mit zahlreichen Literaturhinweisen zur Weiterarbeit versehenen) instruktiven Einzelabschnitten die über den Zusammenhang zwischen Homerexegese und Bibelauslegung sowie die über die alten Übersetzungen und ihre leitenden Prinzipien besonders hilfreich. Bemerkenswert sind die von der vorangehenden Darstellung graphisch etwas abgesetzten Schlußsätze (130), in denen der Autor die Grundprinzipien jüdischer Hermeneutik zusammenfaßt und dabei die Aspekte Vieldeutigkeit, Sprache und Text sowie die rezeptionsästhetische Qualität herausstellt, mittels derer der Text erst durch die Lektüre und Auslegung konstituiert wird. "Erst der Leser macht die Bibel zu dem, was sie ist" (ebd.). Diese Perspektive, die Stemberger mit allem Recht als einen Hauptaspekt jüdischer Bibelhermeneutik stark macht, reicht weit über sie hinaus und könnte die exegetisch-hermeneutischen Fragen "anschlußfähig" werden lassen an solche der gegenwärtigen literarischen Hermeneutik überhaupt. Doch wird gerade dieser Aspekt in den Beiträgen von Dohmen im Blick auf die christliche Exegese und Hermeneutik nicht wirklich aufgenommen.

Überhaupt stehen die Beiträge der beiden Verfasser nebeneinander, sind kaum aufeinander bezogen oder gar in wirkliches Gespräch gebracht. Dohmen liefert den Rahmen und die Leitfragen, Stembergers Part wirkt wie ein materialreicher Exkurs. Freilich spiegelt sich darin auch eine tatsächliche Asymmetrie wider. Denn während der "Status" der jüdischen Bibel im Kontext des Judentums (und dann auch der "christlichen" [?] Judaistik) keine metatheoretische Klärung braucht und auch nicht von sich aus ein In-Beziehung-Setzen zum (christlich vermittelten) "Alten Testament", bedarf es in christlicher Perspektive von vornherein einer solchen grundlegenden Problemanzeige. Dieses Problemfeld (wie können Christen das "Alte Testament" als Teil "ihrer" Bibel wahrnehmen, ohne dabei Jüdinnen und Juden zu enteignen?) bildet den Schwerpunkt der Beiträge Dohmens. Ohne Zweifel handelt es sich um eine entscheidende Fragestellung. Zur ihr liefert Dohmen viel Material, erwägenswerte Anregungen (etwa zur Terminologie-Debatte "Hebräische Bibel, Altes, Erstes Testament?"). Die Abschnitte über klassische Auslegungsmodelle (mehrfacher Schriftsinn, sensus plenior, Verheißung-Erfüllung, Gesetz-Evangelium u. a.) enthalten knappe Darstellungen und hilfreiche Literaturhinweise, jedoch kaum neues Material. Die (ebenfalls von Dohmen allein verfaßte) Zusammenfassung des Bandes stellt noch einmal "Das Konzept der doppelten Hermeneutik" (Jüdische Bibel und Altes Testament) heraus. Es geht dem Autor um eine Hermeneutik, die Christen zur Lektüre des Alten Testaments legitimiert, ohne Juden zu enteignen oder ihren unveräußerlichen Status als Erstadressaten zu vergessen.

Im Blick auf die Themen des vorliegenden Buches verdient es Beachtung und kann als Einführungs- und Studienbuch empfohlen werden. Freilich möchte der Rezensent auch die Gegenprobe machen und nach dem fragen, das in diesem Buch nicht oder nur am Rande thematisiert ist. In der Darstellung geht Stemberger kaum, Dohmen nur wenig über das Mittelalter hinaus. Gerade die am Ende des Stemberger-Teils thematisierte Grundfrage nach dem Verhältnis von Text und Lektüre (Rekonstruktion und Rezeption) hätte eine methodische und methodologische Weiterführung verdient. Gehören nicht auch Buber und Rosenzweig, Cohen und Mendelssohn, Scholem und Wiesel zu den Hermeneuten der jüdischen Bibel ­ und dann nicht auch Kafka, Bloch und Benjamin? Und kann man eine "Biblische Hermeneutik" schreiben, ohne daß von feministischen Exegesen (jüdischen und christlichen) die Rede ist? (In diesem Betracht bietet m. E. die von Zenger u. a. verfaßte "Einleitung in das Alte Testament" [der erste Band der Reihe] mehr an hermeneutischem Reflexionspotential.)

Als Fazit sei gesagt: ein nützliches Buch mit einem wichtigen Schwerpunkt. Zur Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments wäre jedoch noch anderes zu sagen ­ auch um den gewählten Schwerpunkt zu kontextualisieren und aus den Engführungen immer derselben Debatten herauszuführen.