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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

330–332

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Thonak, Sylvia

Titel/Untertitel:

Religion in der Jugendforschung. Eine kritische Analyse der Shell Jugendstudien in religionspädagogischer Absicht.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2003. 331 S. m. Tab. gr.8° = Junge Lebenswelt, 2. Kart. € 19,90. ISBN 3-8258-6898-2.

Rezensent:

Ulrich Schwab

Die Shell-Jugendstudien markieren zweifelsohne seit Jahrzehnten den Standard der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung in Deutschland. Auch die Theologie und mit ihr die Religionspädagogik orientieren sich in ihren Wahrnehmungsanalysen zur Lebenswelt heutiger Jugendlicher wesentlich an den Shell-Jugendstudien. Trotz der großen Rezeption ihrer Ergebnisse hat es eine eigene Monographie darüber, wie das Thema Religiosität bei Jugendlichen in den einzelnen Shell-Studien beschrieben wird, bisher aber nicht gegeben. Sylvia Thonak hat sich diesem Vorhaben nun in ihrer von Christian Grethlein betreuten Dissertation gewidmet und dabei Erstaunliches herausgearbeitet. In detektivischer Kleinarbeit hat sie methodische und systematische Kritikpunkte an der Datenerhebung, Datenauswertung und Dateninterpretation zusammengetragen und damit ihre These untermauert, dass die Shell-Studien in Sachen Religiosität methodisch schlecht konzipiert und perspektivisch einseitig von einer Verfallstheorie christlicher Kirchen beeinflusst sind.
Nun ist es schon länger kein Geheimnis, dass viele Religionslehrkräfte und hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der kirchlichen und verbandlichen Jugendarbeit über die Ergebnisse der Shell-Studien in Sachen jugendlicher Religiosität immer wieder erstaunt sind. Die Shell-Studien zeichnen mit schöner Regelmäßigkeit ein Bild von den Jugendlichen, welches das Thema Kirche und Religion nur noch als marginalisiert kennzeichnen kann. Da heißt es dann, dass konfessionelle Unterschiede in der Lebensführung nicht mehr sichtbar sind oder dass die Kirchen heute in zunehmendem Maße kaum noch Zugangsmöglichkeiten zu den Jugendlichen finden. Und der Religionsunterricht rangiert natürlich am Ende der Beliebtheitsskala. Viele Kolleginnen und Kollegen, die in der Jugendarbeit und im Religionsunterricht tätig sind, erleben das ganz anders. Das ging wohl auch Th. so, die selbst Lehrerin an einem Gymnasium ist. Mit akribischer Genauigkeit hat sie die 11. Shell-Jugendstudie aus dem Jahre 1992 und die 13. Shell-Jugendstudie aus dem Jahre 2000 untersucht. Die 1997 entstandene 12. Shell-Jugendstudie, in der das Thema »Religion« nach eigener Aussage »vergessen« wurde, und die jüngste Shell-Jugendstudie aus dem Jahre 2002, die ebenfalls auf eine explizite Untersuchung der Religiosität verzichten zu können meinte, werden ebenfalls mit ausgewertet – soweit das vorliegende Material es zulässt.
Theoretisch stützt sich Th. sehr überzeugend auf die dreifache Gestalt des neuzeitlichen Christentums, wie Dietrich Rössler sie beschrieben hat. Des Weiteren hat sie auch die Dimensionen der Religiosität nach Charles Y. Glock in der Fassung von Tamminnen rezipiert und vergleicht die Ergebnisse der Shell-Studien immer wieder mit einschlägigen Resultaten der EKD-Mitgliedschaftsstudie »Fremde Heimat Kirche« aus dem Jahr 1993. Vor allem der Vergleich mit den quantitativen EKD-Daten zeigt dann doch oft ein ganz anderes Bild.
In einer Überprüfung der Herleitung der Items für den Bereich der Religion wird deutlich, dass die Fragen zur Religiosität nicht – wie sonst üblich – aus den Vorstudien generiert und validiert wurden, sondern z. B. aus einer Repräsentativumfrage des Norddeutschen Rundfunks aus dem Jahre 1953 stammen. Die Fragen beziehen sich dabei weitgehend auf kirchliches Teilnahmeverhalten und lassen den Bereich der gesellschaftlichen Dimension der Religion (Religionsunterricht, Diakonie) und der individuellen Dimension (religiöse Interessen, persönliche Glaubensvorstellungen) weitgehend außen vor. Th. zeigt auf, dass offensichtlich für die Generierung dieser Items die alte Untersuchung von R. Köster, Die Kirchentreuen, aus dem Jahre 1959 herangezogen wurde, die kirchen- und religionssoziologisch natürlich längst überholt ist. Damit aber kann die Vielfalt jugendlicher Religiosität, wie sie sich inzwischen innerhalb und außerhalb der Kirchen entwickelt hat, nicht erfasst werden. Ein Theorierahmen, wie er z. B. der amerikanischen Untersuchung von Tom Beaudoin, Virtual Faith, 1998, zu Grunde liegt, in der der Einfluss postmoderner Lebensstile auf die Entstehung neuer Formen jugendlicher Religiosität beschrieben wird, hat in den Shell-Studien bisher keine Aufnahme gefunden.
Wie schade das ist, wird deutlich, wenn Th. jeweils den qualitativen Teil (Essays und biographische Porträts von Jugendlichen) mit den Auswertungen der quantitativen Daten vergleicht. Während sich die quantitative Analyse weitgehend nur mit der kirchlich bestimmten Dimension der Religion befasst, finden sich im qualitativen Teil eine Unzahl von Hinweisen auf ein wesentlich breiteres Spektrum jugendlicher Religiosität, die sich gut mit den Phänomenen einer religiösen Suche von Jugendlichen, die Beaudoin beschreibt, in Einklang bringen ließen. Das eine hat aber in den Shell-Studien mit dem andern offensichtlich nichts zu tun. – Neben vielen Ungereimtheiten, die Th. in ihrem Buch auflistet, wird somit deutlich, dass in den Shell-Studien die theoretische Grundlegung einer Untersuchung jugendlicher Religiosität nicht sorgsam genug erarbeitet wurde. So kann aber nichts anderes herauskommen als eine klischeehafte Verfallsgeschichte des kirchlichen Christentums.
Dies ändert sich grundsätzlich nicht in der 13. Jugendstudie aus dem Jahre 2000, wenn Th. hier im Vergleich von Christentum und Islam vielleicht doch etwas zu streng bewertet. Immerhin bemüht sich die 13. Jugendstudie – im Gegensatz zur 14. Jugendstudie (2002), die meint, das Thema Religion ganz beiseite legen zu können – doch um eine differenziertere Wahrnehmung jugendlicher Religiosität. Freilich bleiben auch hier die Verweise auf Religion im qualitativen Teil sträflich unterbelichtet. Dies ist aber nicht nur ein Problem der Darstellung der Religion, sondern ein grundsätzliches Problem des methodologischen Theorierahmens der Shell-Jugendstudien. Eine nachvollziehbare Vermittlung von quantitativen und qualitativen Daten, die dann zu einer in sich schlüssigen kombinierten Interpretation führt, ist leider noch nicht in Sicht. Vielmehr hat man den Eindruck, dass es sich hier um zwei »Baustellen« handelt, die weitgehend unverbunden neben einander her bearbeitet werden.
Th. hat mit ihrer Arbeit eine wichtige Fragestellung minutiös verfolgt. Die Feinanalysen werden bei ihr immer wieder abgerundet durch summarische (Teil-)Zusammenfassungen, was viel zur Lesefreundlichkeit dieses Werkes beiträgt. Für die Erforschung von jugendlicher Religiosität hat sie wesentliche Wegmarkierungen aufgezeigt, die in einer zukünftigen Konzeption der Shell-Jugendstudien – wenn es sie denn zukünftig noch geben wird – aufgenommen werden sollten. Zugleich sind die Anmerkungen von Th. jedoch auch für das Gespräch über empirische Jugendforschung innerhalb der Theologie wichtig. Die Theologie sollte über den gegenwärtigen Trend zur qualitativen Forschung hinaus die Bedeutung eigener quantitativer Erhebungen nicht gering schätzen. Die Theologie, und hier vor allem die Praktische Theologie, könnte so gegenüber den Sozialwissenschaften ihr Expertentum in Sachen Religion unter Beweis stellen.