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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

324–326

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Christine

Titel/Untertitel:

Heranwachsende fragen neu nach Gott. Anstöße zum Dialog zwischen Religionspädagogik und Feministischer Theologie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. 328 S. u. 8 Bildtafeln im Anhang. 8°. Kart. € 29,90. ISBN 3-7887-2018-2.

Rezensent:

Annebelle Pithan

Welche Gottesvorstellungen haben Heranwachsende? Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede? Wie kann der Religionsunterricht darauf reagieren? Welche Hilfen bietet dafür die feministische Theologie? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Habilitation von Christine Lehmann, Privatdozentin für Religionspädagogik in Hannover.
Die Untersuchung erfolgt in vier Schritten: Im ersten Kapitel stellt L. einleitende Überlegungen unter der Fragestellung »Wie heute von Gott sprechen?« an. Kapitel 2 widmet sich den »Gottesvorstellungen von Mädchen und Jungen, von jungen Männern und Frauen als Herausforderung für die Behandlung der Gottesfrage im Unterricht«. L. unterscheidet dabei zwischen Jungen und Mädchen einerseits sowie jungen Frauen und Männern andererseits, um die Grundschüler und die Sekundarstufenschüler »gesondert in den Blick nehmen« zu können (14, Anm. 1). Das dritte Kapitel nimmt das »Gespräch mit feministisch-theologischer Forschung auf der Grundlage religionspädagogischer Fokusse« auf. Das vierte Kapitel formuliert schließlich einen Ausblick »Religionspädagogik im Dialog mit feministischer Theologie«. Neben der Literatur sind ein Begriffs- und ein Personenregister aufgeführt sowie acht farbige Kinderzeichnungen dokumentiert. Das klar gegliederte und verständlich geschriebene Buch richtet sich an Religionslehrer aller Schulformen und -stufen, an Fachwissenschaftler und Studierende der Theologie und Religionspädagogik. Hilfreich wird es auch in der Fort- und Weiterbildung religionspädagogischer Praxisfelder sein.
Erstmals werden in dieser Arbeit die Untersuchungen der 1980er und 1990er Jahre zu Gottesvorstellungen bei Heranwachsenden zusammenfassend vorgestellt und ausgewertet. Die Untersuchung verdeutlicht Entwicklungen und neue Herausforderungen für die Religionspädagogik, indem sie die Schüleräußerungen eingehend würdigt. Während die Veröffentlichungen der 80er Jahre eher von einem »Defizitansatz« (Wo weichen Kinder/Jugendliche vom traditionellen Gottesbild ab?) geprägt waren, verweisen die stark zunehmenden Untersuchungen der 90er Jahre (Barz, Jörns, Schweitzer u. a., Sandt, Hanisch, Arnold u. a., Daniel, Rothgangel, Klein, Schreiner u. a., Sies, Schwab, Orth, Szagun, Shell-Studie 2000) auf den viel diskutierten Perspektivenwechsel, indem die Untersuchten als Subjekte von Theologie ernst genommen werden sollen. Vereinzelt werden die Kinder und Jugendlichen auch selbst zur Interpretation herangezogen (insbesondere bei Klein). Der Komplexität des Gegenstands wird mit mehrperspektivischen Forschungsansätzen begegnet, wobei insgesamt Bilder als Ausdruck im Zentrum stehen. Mit den 90er Jahren kommen auch ost-/westvergleichende und zunehmend empirische Studien in den Blick.
Wiewohl die Genderkategorie in der Forschung als relevant anerkannt wird, werden bisher entsprechende Auswertungen kaum vorgenommen. Die vorhandenen Untersuchungen geschlechtsspezifisch zu »reanalysieren« (128) ist daher ein besonderes Verdienst. Die methodischen Leitfragen, die L. im Einleitungskapitel auf methodisch-hermeneutischen Grund lagen von Schüssler Fiorenza, Radford Ruehter, Moltmann-Wendel, Russel und Trible aufbauend entwickelt hat und nun systematisch an jede Untersuchung anlegt, suchen jeweils bezogen auf die Gottesvorstellungen und Anfragen der Kinder und Jugendlichen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Geschlechtern, nach einer Benachteiligung von Mädchen/ Frauen, nach Mechanismen der Macht, Herrschaft und Unterdrückung sowie nach »neuen Denkräumen« und »befreienden Perspektiven« (36). Mit diesen Perspektiven gelingt es L., die Geschlechterfrage und -hierarchie ernst zu nehmen, ohne bei Stereotypen und Geschlechterdualismen stehen zu bleiben.
Insgesamt zeigt sich ein heterogenes Bild, das hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann. Exemplarisch sei erwähnt, dass Mädchen »eher positive Gottesvorstellungen zum Ausdruck« bringen und von Gott in Beziehungskategorien sprechen (138). Jungen äußern sich weniger zur persönlichen Gottesbeziehung, stellen vielmehr »religionskritische Fragen«, z. B. zur Erklärung von Welt und Glaube (138). Weibliche Metaphern u.ä. für Gott werden selten und nur von Mädchen/Frauen verwendet. Während Mädchen mehr die »beschützende und ermutigende Kraft Gottes sowie Gottes partnerschaftliches Wirken für die Verwandlung der Menschen und der Welt« hervorheben, sprechen Jungen von einem Gott, »der gegen das Böse in der Welt und damit auch gegen den Menschen kämpft« (140). Mädchen sehen insgesamt ein breiteres »Wirken Gottes in der Welt und im eigenen Leben«.
Die Religionspädagogik wird hier künftig mehr Gewicht auf die Analyse solcher Ergebnisse im Zusammenhang mit traditioneller geschlechtsspezifischer Sozialisation legen müssen, um in L.s Sinne fruchtbare Erziehungsprozesse und befreiende Gottesvorstellungen für Kinder und Jugendliche anzubahnen. L. selbst geht in ihrer Untersuchung einen anderen, nicht minder fruchtbaren Weg, der darauf zielt, Sprachfähigkeit für Lehrer und Schüler zu gewinnen. Aus ihren Analysen der Kinder- und Jugendforschung zur Gottesfrage extrahiert sie 13 »religionspädagogische Fokusse« (nach Leyh in Erweiterung der von Nipkow eingeführten »Einbruchstellen des Glaubens«) als Herausforderungen für eine schülerorientierte Religionspädagogik (127–178): wechselseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch, Selbst- und Gottesbild, Gottesmetaphern und Sprechen von Gott, Gott über und mit den Menschen, Existenz des Bösen, Macht und Ohnmacht Gottes (Theodizee), Gottesmetaphern und Wesen Gottes, Gottesbilder, Schöpfung, Existenz Gottes, das Böse und die Macht, Gottessohnschaft und Auferstehung, Weiterleben nach dem Tod.
Im zweiten Hauptteil ihrer Untersuchung zeigt L. exemplarisch, welche Unterstützung dem Religionsunterricht (ergänzt werden könnte: dem Konfirmandenunterricht oder anderen Prozessen religiöser Bildung) durch die feministisch-theologische Forschung zukommen kann. Dazu lässt sie zu den Themenbereichen Beziehung zwischen Gott und Mensch, Wesen Gottes, Schöpfung und Wirken Gottes in der Welt, Bedeutung Jesu und Wesen des Menschen insbesondere befreiungstheologisch orientierte feministische Theologinnen zu Wort kommen. Im Zentrum stehen dabei Vertreterinnen der Gründergeneration (Sölle, Halkes, Moltmann-Wendel, Schottroff u. a.), die mit Hinweisen auf jüngere Untersuchungen auch kritisch diskutiert werden. Dadurch entsteht ein geschichtlicher Abriss feministisch-befreiungstheologischer Gottesrede.
L. stellt sich mit dieser Verfahrensweise grundlegenden Fragen christlicher Theologie, wie z. B. Christologie, Auferstehung, Anthropologie. Expertinnen und Experten der feministisch-theologischen Debatte werden hier vermutlich auch manches vermissen, das in einer systematisch-theologischen Arbeit aufzugreifen wäre. Die möglichen Leerstellen verweisen m. E. auf die Notwendigkeit, den von L. eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. Ihre Arbeit macht deutlich, dass aus der feministischen Theologie zahlreiche Anknüpfungspunkte und Angebote für die Fragen der Heranwachsenden herauszudestillieren sind. Dabei geht es ihr nie um vorgegebene Antworten, sondern um Potentiale, die sich die Schüler befreiend aneignen. So sieht sie etwa angesichts der »Erfahrungen Heranwachsender von einer zunehmenden sozialen Kälte« in den von Schüngel-Straumann herausgearbeiteten biblischen Schlüsselbegriffen »Erbarmen Gottes« und »Solidarität Gottes« einen Weg, »Gott als Gegenüber [zu] qualifizieren, das das Leiden der Schwachen nicht will und das mit ihnen solidarisch ist« (221).
Abschließend formuliert L., deren frühere Beiträge zur Freiarbeit bereits zeigten, dass sie die religionspädagogische Praxis mit der Theorie zu verbinden weiß, Gesichtspunkte für eine genderbewusste didaktische Beurteilung von Unterrichtsmedien und -entwürfen zur Gottesfrage. Diese »Checkliste« ist grundsätzlich hilfreich und sollte Eingang in die Lehreraus- und -fortbildung finden. L.s abschließende Vorschläge für eine erfahrungsbezogene Aneignung und Vermittlung deuten an, welche Umsetzungsmöglichkeiten für die Fachdidaktik und -methodik in ihrer Untersuchung liegen. Religionspädagogisch Tätige können sich hiervon für ihre Praxis anregen lassen.

L. gelingt es, exemplarisch am Thema Gottesvorstellungen die Äußerungen von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen und mit feministisch-theologischen Überlegungen ins Gespräch zu bringen. Indem sie dabei auch Geschlechterunterschiede berücksichtigt, trägt sie erheblich zu einer geschlechterreflektierten Religionspädagogik bei, die die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler im Blick hat. Zu wünschen wäre, dass damit deutlich würde, dass feministische Theologie keine Sondertheologie ist, sondern Ausdruck der Weiterentwicklung einer Rede von Gott, die auf lebensrelevante Fragen von Heranwachsenden weiterführende Antworten geben kann.