Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2006

Spalte:

321 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Baumann, Maurice, Grädel, Rosa, Probst, Daniel, u. Gilbert

Titel/Untertitel:

Baustelle Religion. Eine empirische Un tersuchung zum schulischen Religionsunterricht im Kanton Bern.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Ox ford-Wien: Lang 2004. 176 S. m. Abb. 8°. Kart. € 36,50. ISBN 3-906766-54-3.

Rezensent:

Cla Reto Famos

Während in Deutschland der Bestand und die Ausgestaltung des schulischen Religionsunterrichts durch das Grundgesetz auf Bundesebene verfassungsrechtlich geregelt sind, fällt das Schulwesen in der Schweiz in die Kompetenz der Kantone. Deshalb bestehen sehr unterschiedliche Systeme nebeneinander. Der Kanton Bern ist geschichtlich durch eine sehr enge Verbindung von Kirche und Staat gekennzeichnet. Die evangelisch-reformierte Landeskirche ist klare Mehrheitskirche, daneben sind aber auch die römisch-katholische sowie die christkatholische Kirche und die jüdische Gemeinschaft öffentlich-rechtlich anerkannt. Der Kanton finanziert vollumfänglich die Besoldung der Geistlichen. Trotz satter Mehrheitsverhältnisse hat sich nicht zuletzt durch die Migration in städtischen Gegenden eine religiöse Pluralisierung eingestellt. Dies führte zu einem politischen Druck auf den schulischen Religionsunterricht und zu tiefgreifenden Veränderungen. Im Kanton Bern ist 1992 ein neues Volksschulgesetz erlassen und gestützt darauf 1995 der Lehrplan geändert worden. Ein eigenes Fach Religionsunterricht gibt es seither nicht mehr. Der Religionsunterricht, der an und für sich schon als »Religion-Mensch-Ethik/Religion-Lebenskunde« (RME/RE) daherkommt, wurde als Teilgebiet in das Fach »Natur-Mensch-Mitwelt« (NMM) integriert.
Das Institut für Praktische Theologie der Universität Bern hat sich nun zum Ziel gesetzt, die Formen, Inhalte und Ziele des Religionsunterrichts regelmäßig zu überprüfen. Dazu wurde 1998 eine empirische Untersuchung lanciert, deren Ergebnisse im vorliegenden Band präsentiert und kommentiert werden. Vorangestellt sind eine Analyse des veränderten Kontextes für religiöse Bildung in der modernen Gesellschaft und die Darstellung der historischen Entwicklung des Berner Modells. Am Schluss des Buches nehmen Personen aus Politik und Bildung aus ihrer Sicht Stellung.
Die Fragestellung der empirischen Untersuchung überrascht. Die Forschungsgruppe ging nämlich von einem »vielfach gehörten, aber bisher nicht empirisch untersuchten Gerücht aus«, dass das Teilgebiet Religion in »Natur-Mensch-Mitwelt« von den Lehrern wenig ernst genommen werde und mancherorts ein eigentlicher Unterricht im Sachgebiet Religion gar nicht mehr stattfinde (65). Sicherlich war man sich bewusst, dass die zweite Behauptung dieses Gerüchts nur durch eine lückenlose Untersuchung aller Unterrichtsverhältnisse falsifiziert werden könnte. Die Forschungsgruppe kommt auf Grund der repräsentativen Untersuchung nur zum Schluss, sie könne »die gerüchteweise verbreitete Behauptung, dass RU nicht mehr praktiziert wird, nicht bestätigen« (125). Die erste Behauptung kann dagegen klar widerlegt werden: Die Lehrerschaft des Kantons Bern schätzt die Bedeutung des Fachbereichs Religion hoch ein.
Die Forschungsgruppe kommt zum Schluss, dass die »RU-Praxis nicht in einer Phase endgültiger Erosion, sondern in der einer vollständigen Rekonstruktion« (125) sei. Das Institut für Praktische Theologie stützt und legitimiert eine Praxis des schulischen Religionsunterrichts, die auf explizit religiöse oder gar christliche Inhalte weitgehend verzichtet und gegen welche die Kirchen bei ihrer Einführung in den 90er Jahren klar protestiert haben. Dagegen plädiert die Religionswissenschaftlerin an der Universität Bern, Karénina Kollmar-Paulenz, in ihrer Stellungnahme für ein eigenständiges Fach Religion. Der letzte Satz ihres Beitrages, der ganz am Ende des Buches platziert ist, lautet: »Aufgrund der gesellschaftspolitischen Relevanz des RU erscheint es mir sinnvoller, das Fach nicht in dem Fach NMM aufgehen zu lassen.«