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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

319–321

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Shuster, Marguerite

Titel/Untertitel:

The Fall and Sin. What We Have Be come as Sinners.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2004. XII, 280 S. gr.8°. Kart. US$ 30,00. ISBN 0-8028-0994-4.

Rezensent:

Matthias Zeindler

Die Lehre von der Sünde steht seit langem in der Spannung zwischen selbstverständlicher Evidenz und fehlender Plausibilität. Jede Nachrichtensendung, aber auch tägliche Erfahrung bestätigen, dass das menschliche Wesen zu erschreckend Bösartigem in der Lage ist. Und doch fällt es Theologie und Kirche in der Neuzeit schwer, die Sünde als unverzichtbares Moment anthropologischer Rede verständlich zu artikulieren. Die Moderne, schwankend zwischen Fortschrittsoptimismus und tragischer Weltsicht, ist für eine Interpretation der menschlichen conditio nur noch schwer erreichbar, welche das Elend des Menschen an seine eigene Verantwortung zurückbindet, dieses Elend aber immer auch als Verweis auf dessen Überwindung durch Gott versteht.
Auf diesem Hintergrund legt Marguerite Shuster, Homiletikerin am Fuller Theological Seminary (Pasadena, California), eine eindringliche Studie zum Problemkreis von Sündenfall und Sünde vor. Sie bewegt sich mit ihrem Entwurf nach eigenem Bekunden auf einer augustinisch-reformierten Linie. Diesen Zu gang zur Problematik findet man verständlich exponiert, mit sinnvollen Rekursen auf Empirisches und durchgehendem Bibelbezug. Von eigenem Gewicht sind fünf Predigten, welche im Duktus des Buches nicht bloß die Applikation illustrieren, sondern auch zur Entfaltung des Arguments beitragen.
Sünde und Sündenfall bedürfen einer gemeinsamen Reflexion. Entscheidungen auf der einen Seite wirken sich unmittelbar auf der andern Seite aus. S. zeigt dies deutlich mit einer Reihe von Abgrenzungen bereits in ihrem ersten Teil zum Sündenfall. Der Sündenfall, so hält sie gegen eine verbreitete Interpretation fest, meint nicht eine Stufe menschlicher Bewusstseinsentwicklung, sondern ist die Folge der Auflehnung gegen göttliche Autorität. Der Sünder ist der Mensch, der seine Geschöpflichkeit ablehnt. Dass diese Auflehnung von einem noch nicht vollständig unterscheidungsfähigen Bewusstsein vollzogen worden wäre, lässt sich der biblischen Urgeschichte nicht entnehmen. Die Wurzeln des Sündenfalls, so S.s Konsequenz, bleiben im Dunkeln, theologischer Erklärung entzogen.
Man trifft hier ein erstes Mal auf eine für dieses Buch charakteristische Argumentationsfigur: Die Explikation wird so weit als möglich vorangetrieben, an einem bestimmten Punkt aber bewusst abgebrochen. Die dabei offen bleibenden Paradoxa gehören für S. zur Sache selbst, und ihre Auflösung würde das Wesen von Sünde und Fall unweigerlich verfehlen. Wie die Wurzel des Falls, so lässt sich generell die Wurzel des Bösen nicht angeben. Für S. sind deshalb Deutungen des Bösen als Bedingung für das Gute oder als Preis menschlicher Freiheit theologische Grenzüberschreitungen. Nirgends zeigt sich der augustinische Grundzug dieses hamartiologischen Entwurfs deutlicher als in solchen reflektierten Grenzziehungen.
Im Gang der Reflexion auf den Sündenfall eröffnen sich auch Fragen in Bezug auf die Vorsehungslehre. Wieder muss hier ein Paradox offen gehalten werden, diesmal das Paradox zwischen göttlicher Souveränität und menschlicher Freiheit. Die Sünde hat in Gott weder ihre Ursache noch beraubt sie ihn seiner Kontrolle über die Schöpfung. Unter den Bedingungen des Sündenfalls vollzieht sich göttliche Souveränität darin, dass Gott aus dem Bösen fortwährend Gutes werden lässt.
Der zweite Teil der Untersuchung ist der Lehre von der Sünde gewidmet. Wieder setzt S. ein mit einer Definition, von welcher aus sie dann eine Reihe von Abgrenzungen vornimmt. Als Sünde ist jeder Akt zu bezeichnen, der nicht konform geht mit dem Gesetz Gottes. Anders formuliert kann man sie im Gefolge von Augustin und Luther als Selbstbezüglichkeit bezeichnen, was sie gleichbedeutend macht mit dem Verlust von Humanität. Damit steht aber fest, dass sie nicht zusammenfällt mit menschlicher Begrenztheit. Menschliche Begrenztheit gehört zwar zu den Bedingungen von Sünde, der Akt der Sünde ist aber aus seinen Bedingungen nicht ableitbar. Seinem Wesen entspricht es, dass er unerklärlich bleibt.
Sehr anregend zu lesen sind S.s Überlegungen zu Graden der Sünde sowie zu den Zusammenhängen von Sünde und Sexualität, Geld, Rasse und Geschlecht. Ihre Ausführungen zur Problematik der Erbsünde sind ein Beispiel, wie Exegese, sorgfältig interpretierte empirische Befunde und Bestände theologischer Tradition erhellend in Beziehung gesetzt werden können. In der Auseinandersetzung mit dem bekannten Haupteinwand gegen die Erbsündenlehre, die menschliche Freiheit, sieht S. einmal mehr ein Paradox gegeben, dass durch theologische Reflexion nicht aufhebbar ist. Die Studie ist eine eindrückliche Präsentation der Sündenlehre in ihrer ganzen Breite. Es gelingt S. dabei in eindrücklicher Weise, die erschließende Kraft dieser theologischen Zentrallehre zu plausibilisieren. In ihrem Buch liefert sie einen überzeugenden zeitgemäßen Versuch, das Interpretationspotential der augustinisch-reformierten Tradition zu erproben. Mit ihrer Methodik, an gewissen Stellen Paradoxa bewusst nicht aufzulösen, unterstreicht S., dass Theologie über keine Metaperspektive verfügt, welche es ihr erlauben würde, die letzten Spannungen menschlicher Existenz theoretisch auszugleichen. Theologie hat an diesen Spannungen teil.
Last not least: Wohltuend und in guter angelsächsischer Tradition ist S.s anspruchsvoller, aber unterminologischer und von allem unnötigen Anmerkungsballast freier Schreibstil.