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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

361–363

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Baumann, Gerlinde

Titel/Untertitel:

Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1-9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XI, 374 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament, 16. Lw. DM 198,­. ISBN 3-16-146597-0.

Rezensent:

Jutta Krispenz

Über Jahrhunderte hinweg wurde die Hierarchisierung der Geschlechter in Kirche und Theologie, die Frauen stets den Männern nachordnete, legitimiert unter Hinweis auf biblische Texte. In diesem Diskussionszusammenhang war es nur konsequent, wenn Theologinnen, die für die Gleichberechtigung der Frauen in Kirche und Theologie eintraten, sich bemühten, einerseits zu den gegen sie zitierten Texte alternative Verständnismöglichkeiten zu finden und andererseits biblische Texte ausfindig zu machen, die den eigenen Anspruch auf Wahrnehmung als gleichwertige Menschen unterstützen konnten. Zwar haben sich die ursprünglichen Voraussetzungen der Diskussion feministischer Theologie in den protestantischen Kirchen geändert, doch haben feministische Theologinnen inzwischen neue Forschungsgebiete gefunden, so daß dieser Bereich eine eigene Entwicklung und vielfältige Aufgliederung erfahren hat.

Zu den klassischen Gegenständen feministischer Theologie gehört die Auseinandersetzung mit der Weisheitsgestalt in Prov 1-9. Diesem oft behandelten Thema widmet sich Gerlinde Baumann in ihrem Buch, das eine leicht bearbeitete Fassung ihrer in Heidelberg eingereichten Dissertation darstellt. Daß auch sie sich wohl am ehesten als feministische Theologin sehen dürfte, zeigt ein Blick in das Literaturverzeichnis, das zwei Beiträge der Autorin in feministisch-theologischen Sammelwerken ausweist. Doch erwartet den Leser feministische Debatte eher in geringer Dosis, was vielleicht in sachlichem Zusammenhang stehen mag mit einer Einschätzung M. Bals: "Feminist exegesis has a heavy burden to carry: it must make itself plausible in discussion with standard views, it must show competence even in the traditional skills, and it must integrate literary as well as biblical traditions with feminist philosophy" (in: A. Brenner/F. van Dijk-Hemmes: On Gendering Texts. Leiden, 1993, XI).

B. bearbeitet ihre "Bürde" in drei Hauptteilen. Der erste Teil­ eine "Einleitung" gibt es nur im Inhaltsverzeichnis ­ stellt forschungsgeschichtlich die verschiedenen Positionen zur Figur der Weisheit vor ("A. Zur Forschung über die Weisheitsgestalt in Prov. 1-9"), die sie, nach ein paar "Vorbemerkungen" zur Geschichte der Forschung an diesem Bereich unter zwei Aspekten darstellt: Zuerst werden "Die Deutungskategorien der Weisheitsgestalt" durchgesehen, von denen B. vier in der Forschung vertretene ausmacht. Jeder von ihnen ist ein Abschnitt gewidmet ("Die Weisheitsgestalt als Hypostase JHWHs", "Eine Göttin oder ein Mythos als Ursprung der Weisheitsgestalt", "Die Weisheitsgestalt als poetische Personifikation" und "Die Weisheitsgestalt als Gegenüber der fremden bzw. törichten Frau"). Der zweite Aspekt, unter dem B. die vielfältige Diskussion zur Weisheitsgestalt zu bündeln versucht, ist der der "... theologische(n) Funktion der Weisheitsgestalt", worunter B. recht unterschiedliche Themen vereinigt: "Die Position der Weisheitsgestalt als Mittlerin", "Die Offenbarungsfunktion der Weisheitsgestalt", "Aspekte der Verkündigung der Weisheitsgestalt", "Die Weisheitsgestalt im Verhältnis zur Konzeption des Messias", "Die feministisch-theologische Perspektive: Die Weisheitsgestalt als Theologumenon des nachexilischen Israel", "Einzelaspekte" und "Auswertung".

Der erste Teil zeigt einige Charakteristika des ganzen Buches: Der Text ist stark untergliedert und enthält immer wieder zusammenfassende Abschnitte. Beides macht das Buch leichter lesbar. Der große Materialreichtum (auf den 58 Seiten des ersten Teils behandelt B. beispielsweise rund 60 Autoren und Autorinnen im Haupttext) macht diese Maßnahmen aber auch erforderlich.

Die im zweiten Teil folgende Textuntersuchung ("B. Die Texte über die Weisheitsgestalt") stellt den bei weitem umfangreichsten Teil des Buches dar. Nach zwei sehr knappen Abschnitten zu Methode und Textkritik untersucht B. den für ihr Thema zentralen Text Prov 8, danach bietet sie "Textuntersuchungen zu den weiteren Ich-Reden der Weisheitsgestalt" (Prov 1,20-33 und Prov 9,1-6) sowie "Textuntersuchungen zu den weiteren Vorkommen von ’Weisheit’ in Prov 1-9" (Prov 1,1-7; 2,1-11; 3,13-20; 4,5-9; 4,10-13; 5,1 f; 7,4; 9,10).

Die Untersuchung von Prov 8 hat dabei das größte Gewicht. B. untersucht diesen Text abschnittweise, wobei jedem Abschnitt der hebräische Text mit einer Übersetzung vorangestellt ist, gefolgt von je einem Abschnitt über "Aufbau und Struktur des Abschnittes" (eine explizite Differenzierung zwischen Aufbau und Struktur findet indes nicht statt, auch die Überlegungen zum Vorgehen [60 f.] gehen darauf nicht ein). Nach diesen Vorarbeiten kommt B. zu ihren eigentlichen Untersuchungen. Diese verwenden Ergebnisse der Arbeiten von A. Robert ­ daß in Prov 1-9 Fälle von innerbiblischer Exegese zu finden sind ­, um die Aussagen über die Weisheit auf einem breiten traditionsgeschichtlichen Hintergrund untersuchen zu können. Sie sucht über "Worte und Wortverbindungen" (60) Texte im AT, auf die in Prov 1-9 angespielt wird. Die Suche wird von Prov 10 ff. ausgehend auf das AT und schließlich auf den alten Orient ausgedehnt. Daß B. bei alledem nicht sklavisch einem Schema folgt, kommt der Arbeit zugute: So in den Ausführungen zum "’Weltmodell’ von Prov 8,22-31", in denen sie eine Topologie der Schöpfung aus dem Text herausschält. Oder in den Ausführungen zum Hapaxlegomenon "’amun", bei dem die Diskussion der unterschiedlichen Deutungen dieses Wortes im Vordergrund steht. Nützlich ist auch der in die Behandlung von 8,22-31 eingeschobene Exkurs über "Das Verhältnis von Prov 8,22-31 zu ausgewählten Schöpfungstexten" (Gen 1,1-2,4a; 2,4b-25; Hi 28; Hi 38,1-40,2; 40,6-42,26).

Die Textuntersuchungen ­ auf die im Einzelnen hier nicht eingegangen werden kann ­ werden durch "Übergreifende Untersuchungen zu Prov 1-9" abgerundet, in denen B. u. a. nach dem Sitz im Leben von Prov 1-9 fragt und als Antwort einen "Sitz im Buch" angibt: Die ersten Kapitel des Proverbienbuches haben einleitende Funktion im literarischen Sinn. Die Überlegungen zur Datierung führen zu dem Ergebnis, daß der untersuchte Abschnitt "... etwa um 400 v. Chr. abgefaßt worden ist" (272).

Der abschließende dritte Teil (C. "Zur Theologie der Weisheitsgestalt") zieht einige der im ersten Teil begonnenen Linien aus. Geht der erste Abschnitt ("Einführung") darauf ein, wie "Weisheit" als Eigenschaft von Menschen und ­ nur selten und in späten Texten ­ als Eigenschaft Gottes jeweils gefaßt wird und warum die Deutungskategorie "Personifikation" für B. die einzig mögliche für die Weisheitsgestalt ist, so zeigen die drei folgenden Abschnitte diese, nunmehr ausgeleuchtete Gestalt, in Relation. Alttestamentliche Traditionen kommen zuerst in den Blick ("Die Weisheitsgestalt im Verhältnis zu anderen theologischen Bezugsgrößen Israels"): Beziehungen sieht B. zu prophetischen Traditionen und zu den Vorstellungen, die sich an den König knüpfen. Im Verhältnis der Weisheit zur Tora bereitet sich in Prov 1-9 die spätere Identifikation beider Begriffe vor.

Dann versucht B. die Traditionsgeschichte der Weisheitsfigur über die Grenzen des AT auszuziehen und gelangt zu der Ansicht, "... die Entwicklung des Ma’at-Denkens im Zusammenhang mit der persönlichen Frömmigkeit in Ägypten (sei) als ein Modell (zu) verwenden, mit dessen Hilfe die Ausarbeitung der israelitischen Weisheitsgestalt erhellt werden kann" (303 f., Zufügungen in Klammern von der Rezn.). Diesen Gedanken entwickelt B. allerdings allein auf der Grundlage von ägyptologischer Sekundärliteratur, ohne Reflexion auf Rahmenbedingungen und methodische Erfordernisse eines interkulturellen Vergleichs.

Im letzten Abschnitt stellt B. ihre Ergebnisse in den Zusammenhang feministischer Exegese. Bemerkenswert erscheinen der Rezn. dabei weniger die Passagen, in denen B. an traditionell feministisch-theologisches Gedankengut anknüpft ­ so etwa die Feststellung "Die Texte geben Hinweise darauf, daß es zu damaliger Zeit neben dem Leiden von Frauen auch Widerstände gegen unterdrückende Strukturen gegeben hat." (318) ­ als vielmehr jene Bemerkungen, in denen B. mit einiger Nüchternheit die Relevanz des alttestamentlichen Modells für die feministische Debatte hinterfragt. "Auch bei Traditionen, die auf den ersten Blick ’feministisch’ klingen ... muß im Blick behalten werden, daß sie nicht so rezipiert werden können, als seien ihre Strategien per se vorbildlich ..." (318).

Das Buch bietet eine Bearbeitung des Themas, die unter Aufbietung großer Materialmengen vielen verschiedenen Spuren folgt. Daß dabei gelegentlich Argumentationsstruktur und Begriffsbildung für den Leser zu verschwimmen drohen, schränkt den zweifellos hohen Gebrauchswert des Buches allenfalls ein wenig ein. Sachregister, Bibelstellenregister und ein erfreulich übersichtlich gestaltetes Literaturverzeichnis vervollständigen den Band.