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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

311–313

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Feministische Theologie und Gender-Forschung. Bilanz – Perspektiven – Akzente.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 232 S. m. Abb. 8°. Kart. € 18,80. ISBN 3-374-02078-X.

Rezensent:

Dorothee Schlenke

Die in der dritten Generation betriebene Feministische Theologie vollzog in den 80er Jahren eine folgenreiche Umorientierung zur Genderforschung: »Geschlecht«, differenziert in sex (biologisches Geschlecht) und gender (kulturell-soziale Geschlechtszuschreibung) wurde als grundlegende Strukturkategorie wissenschaftlicher Erkenntnis postuliert und mit einem entsprechenden theologischen Paradigmenwechsel in Methodik und Hermeneutik verbunden. Stand und Ertrag der bisherigen, interdisziplinär orientierten, feministisch-theologischen bzw. Gender-Forschung zu formulieren und neue Fragestellungen anzuregen, ist die erklärte Absicht des vorliegenden, aus einer Ringvorlesung des Fachbereiches Evangelische Theologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz im Sommersemester 2002 hervorgegangenen Buches.
In ihrer einführenden Vorlesung bestimmt Dorothee Sölle (9–22) den Feminismus programmatisch als eine Frauen und Männer gleichermaßen einschließende »gegenkulturelle Bewegung« (15) zur Realisierung umfassender Emanzipation. Die de konstruktive Arbeit des »befreiungstheologischen Feminismus« (Patriarchatskritik) müsse gegenwärtig durch ein rekonstruktives »ökofeministisches Verständnis von Schöpfung« ergänzt werden (vgl. 20 f.). Das hier bei Sölle zu Tage tretende, auch andere Beiträge kennzeichnende Changieren zwischen feministischer Parteilichkeit und integrativem Gender-Paradigma bringt Irmtraud Fischer (23–41) auf den Punkt, wenn sie ihren eigenen hermeneutischen Ansatz zwar als »geschlechterfair« (23) bezeichnet, ihn jedoch im Blick auf die gesellschaftlich herrschende Geschlechterhierarchie »mit feministischer Option« (24) betreibt. Ihr im Anschluss an die jüdische Tradition gewonnener erweiterter Begriff der Prophetie führt sowohl zu einer neuen Sicht auf die Prophetinnen Mirjam, Deborah und Hulda als auch auf das differenzierte Geschlechterverhältnis in der konsolidierten Perserzeit. Anhand von 1Kor 11,2–16, einem klassischen Text urchristlicher Geschlechterhierarchie, exemplifiziert Angela Standhartinger (43–66) die Geschichte feministischer Paulusexegese, die gegenwärtig durchaus eine gewisse Offenheit in Paulus’ Sicht des Geschlechterverhältnisses aufzuzeigen vermag. Im Unterschied zu der methodisch elaborierten Frauen- und Geschlechterforschung der Geschichtswissenschaft konstatiert Ruth Albrecht (67–96) in der konsequenten Anwendung der Genus-Kategorie ein großes Desiderat kirchenhistorischer Forschung (vgl. 71), welche in der dafür erforderlichen »Re-Vision des Theologiebegriffes« auch »alltags- und sozialgeschichtliche Vorgänge« als theologierelevant aufnehmen müsse (vgl. 76 ff.95 f.). Für die Frauenforschung in der jüdischen Geschichte weist Monika Richarz (137–154) überzeugend nach, dass der neuzeitliche Prozess der Verbürgerlichung des Judentums durch die damit einhergehende »Emotionalisierung« und »Feminisierung« der Religion im 19. Jh. (150) grundlegende Impulse durch die jüdische Frauengeschichte empfangen habe.
Die konstruktive Wechselwirkung von feministischer Bewegung und Theoriebildung zeige sich, so Sybille Becker (123–136), insbesondere in der Praktischen Theologie, insofern erst das Gender-Paradigma erlaube, die Prozesse religiöser Sozialisation und Praxis adäquat zu erfassen (vgl. 134). Dass die »Frauenfrage« auch in rechtlicher Hinsicht praktisch relevant wurde, verdankt sich nach Bettina Heintz (197–227) entscheidend ihrer Verknüpfung mit der internationalen Menschenrechts-Debatte. In ihrem Plädoyer für eine »gendersensible« Rechtfertigungstheologie möchte Helga Kuhlmann (97–122) die feministisch-theologische Kritik an der reformatorisch behaupteten vollkommenen Sündhaftigkeit und Passivität des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen durch das Postulat einer iustitia re ceptiva aufnehmen. Die damit konstatierte Aktivität im Hören, Empfangen und Aneignen der Rechtfertigungsbotschaft bleibt jedoch dem Verdacht ausgesetzt, die schlechthin konstitutive Passivität des zu Rechtfertigenden zu verspielen. Im Anschluss an die umstrittenen Thesen von Carol Gilligan konzipiert Elisabeth Conradi (155–178) feministische Ethik als »Care-Ethik«, welche die traditionelle Abgegrenztheit und Autonomie des ethisch handelnden Individuums zu Gunsten der »Interrelationalität« (176 f.) gemeinsamer emanzipatorischer Praxis zu transzendieren sucht. Ob die für solche »kollektiven Veränderungsprozesse« erforderliche »gegenseitige Anerkennung« und die »geteilten Zielvorstellungen« allerdings ohne die Annahme eines autonomen und insofern allererst zustimmungsfähigen Individuums auskommen, ist fraglich.
Dass nicht nur die feministische Option, sondern auch die »genderbezogene Fokussierung« (191) zu verzerrenden Ergebnissen führen kann, zeigt Christa M. Heilmann (179–227) in ihrer den Band beschließenden sprachtheoretischen Analyse der Konstitution von »Geschlecht«. Unbeschadet aller Kritik im Einzelnen ist dadurch das Erkenntnisinteresse feministischer Theologie und Gender-Forschung jedoch keinesfalls desavouiert; angesichts der von manchen Autorinnen beklagten (männlichen) Ignoranz gegenüber ihren Forschungsergebnissen bleibt es eine – mindestens – strategisch erforderliche Option.