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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

309–311

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Claudy, Tobias, u. Michael Roth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freizeit als Thema theologischer Gegenwartsdeutung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 243 S. gr.8° = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 1. Kart. € 28,00. ISBN 3-374-02258-8.

Rezensent:

Thomas Brinkmann

Die Theologie, insbesondere die Praktische Theologie, hat sich im vergangenen Jahrzehnt zunehmend um eine verstehende Erkundung der Gegenwartskultur bemüht. Umschreibungen wie »religiöse Kulturhermeneutik«, »Lebensweltforschung« oder »Religionsphänomenologie der Gegenwartskultur« sind zu den gebräuchlichsten Schlagworten in einem Diskurs geworden, der den Weg der Praktischen Theologie von einer Handlungstheorie zu einer Wahrnehmungswissenschaft beschreiten will, Phänomene und Entwicklungen der neuzeitlichen Alltags- und Lebenswelt sowie Themen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit in den theologischen Blick zu nehmen sucht und danach strebt, Veränderungen gelebter Religiosität aufzuspüren, Identitätsstiftungs- oder Sinnfindungsmuster freizulegen, die Wechselbezüge von Kultur und Religion zu beschreiben – und selbst einen theologischen Beitrag zur Gegenwartsdeutung allgemein zu leisten. Dieser Diskurs hat eine Reihe interessanter Ansätze und Arbeiten hervorgebracht, die sich etwa der sinnstiftend-religionsproduktiven Funktion neuzeitlich-moderner Medien und Stories, der kultursoziologischen bzw. -anthropologischen Analyse eines Segments kulturell vermittelter Religionspraxis oder der Ausarbeitung eines theologisch gehaltvollen Lebenswelt-Begriffes widmeten.
Es galt, damit grundsätzlich eine theologische Deutungskompetenz zu etablieren, die etwa mit einer religionswissenschaftlich-theologischen Beschreibbarkeit zunächst unreligiös scheinender Kulturphänomene, -objekte und -gebilde korrespondiert, den Versuch einer Erneuerung praxisbezogener bzw. praxisrelevanter Sprach- und Denkfähigkeit der Theologie er kennen lässt und einer neuen theologischen Interpretationshoheit – zumindest für gewisse Segmente – Vorschub gewährt. Die Liste diesbezüglicher wissenschaftlicher Gesprächspartnerinnen ist lang, zu ihnen gehört die Kultursoziologie ebenso wie die Kulturanthropologie und die (Religions-)Phänomenologie; Autoren der so genannten Postmoderne werden ebenso ins Gespräch gezogen wie die jüngeren »Klassiker« der Religionssoziologie und der Systemtheorien. Länger als diese Liste freilich ist die der entsprechenden Veröffentlichungen, zu denen nun auch die vorliegende Arbeit zu zählen ist – und über deren Genese in zwei Vorworten berichtet wird:
Am 24. Juli 2004 wurde in der Katholischen Akademie »Die Wolfsburg« (Mülheim an der Ruhr) die »Kulturhermeneutische Sozietät e. V.« gegründet, u. a. weil »theologische Arbeit heute um ein Verstehen der Kulturen in ihrem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext bemüht« sein will und Anteil haben muss »an einer interdisziplinären Spurensuche von Wirkungen, die Identitäten prägen …, Orientierung geben, aber auch Wahrnehmung und Urteilsbildung blockieren können« (5). Weil die Theologie, die einst die Entwicklung der Hermeneutik von der Kunst des Verstehens zur universalen Wissenschaftsdisziplin vorangetrieben hat, nun »mitten in der kulturhermeneutischen Diskussion unserer Tage« (5) steht – eine Entwicklung, deren Spannungsbogen im Übrigen von M. G. Petzoldt in seinem Beitrag »Kulturhermeneutik als theologische Aufgabenstellung« ausführlich nachgezeichnet wird (11–52) –, hat sie »die Fragen des eigenen akademischen Umfelds im Horizont des je anderen Deutezusammenhangs zu überprüfen sowie vergleichend, bis hin zur Kritik, aufzuarbeiten« (5). Mit dem so beschriebenen Ziel geht die Sozietät nun ans Werk; sie widmet sich auf ihrer Gründungstagung dem Thema »Freizeit« – und legt die entsprechenden Diskussionsbeiträge im ersten Band der neu konstituierten Reihe »Theologie – Kultur – Hermeneutik« unter dem Titel »Freizeit als Thema theologischer Gegenwartsdeutung« vor. Begründet wird diese Themenwahl mit der Kenntnis, dass in »der modernen Gesellschaft … die Freizeit und die durch die Freizeit gegebenen neuen Möglichkeiten der Lebensgestaltung einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren« haben; sofern nämlich »die Freizeit ein Phänomen der neuzeitlichen Lebenswelt und somit auch ein Thema der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist, ... muss sie auch zum Thema der Theologie werden, wenn denn die Theologie ihren Anspruch ernst nimmt, den Glauben in Bezug auf die Gegenwart (und damit auch in Bezug auf konkrete Ausdrucksformen der Gegenwart) zu verantworten« (7). Diesen hohen Anspruch versucht die Beitragssammlung exemplarisch einzulösen.
Matthias G. Petzoldt erklärt am Ende seiner Skizze, inwiefern die neue Blüte der Hermeneutik ihre Berechtigung durch die Tatsache erhält, dass das »Verstehen von Texten, von Bildern, von Zeichen, das Verstehen des Anderen wie das Verstehen meiner selbst im Kontext des geschichtlich gewachsenen wie des gegenwärtig gesellschaftlichen Gestaltens … eine bleibende Funktion menschlichen Daseins und seines Orientierungsbedürfnisses« (52) ist. Zu einem vergleichbaren Fazit kommen auch Tobias Claudy und Michael Roth in ihrem Referat »Hermeneutik der Gegenwart und Kontextualität der Theologie«, indem sie erklären: »Theologie ist nur denkbar im Geflecht der menschlichen Existenz, die sich, ihre jeweilige Gegenwart aktualisierend, induktiv verstehen will. Sie gewinnt ihre konkrete Gestalt darin, diesen Grundsachverhalt ernst zu nehmen und ihm durch Absage an deduktive, naiv-biblizistische oder autoritätsgläubige Denkstrukturen Rechnung zu tragen.« (75)
Sicherlich kommen Petzoldt, Claudy und Roth in ihren programmatisch konzipierten Aufsätzen zu einer interessanten Zusammenfassung bisheriger Debatten – und somit auch zu insgesamt richtigen Kernsätzen. Aber wie kann deren Gehalt nun um gesetzt, also auf das Thema »Freizeit« bezogen werden?

Mit Stefan Beyerle (Scholä und Paidia. Erkundungen zur »Freizeit« im Umfeld von Altisrael und antikem Judentum, 77–95) und Albrecht Scriba (Freizeit aus der Perspektive des Neutestamentlers, 97–103) kommen zunächst die Exegeten »von den Begriffen zur Sache« (77), um einerseits die Motiv-Konstellationen »Spiel« und »Muße« als Sinnhorizonte die Konturen eines möglichen Freizeitverständnisses auszuloten (94), andererseits »die tiefe Problematik eines Vergleichs von Freizeit in der Gegenwart mit dem Neuen Testament« zu verdeutlichen (102).
Alsdann wird
Jochen B. Schmidt (Unlust und Glaube. Die Aporie er leb nisorientierter Freizeitgestaltung als Herausforderung für die Kulturhermeneutik, 105–119) und Theodor Dieter (Eine geglückte theologische Rehabilitation des Glücks, 121–141) das Wort erteilt. Während Erstgenannter die Gelegenheit nutzt, eine Rekonstruktion seines Kierkegaard-Verständnisses darzulegen, fühlt der andere sich zu einer Rezension von Jörg Lausters »Gott und das Glück« nebst einer Kommentierung zu dem »Projekt einer theologischen Rehabilitation des Eudämonismus« (141) berufen. Beide Autoren lassen leider nicht recht erkennen, mit welchen Thesen und Erkenntnissen sie der eigentlichen Thematik »Freizeit« dienen wollen.
Anders ist das hingegen bei
Friedrich Lohmann (Zeit der Freiheit. Freizeit als sittliche Gestaltungaufgabe, 143–164), der mit einer gekonnten Problemskizze bei der Frage ansetzt, was Freizeit überhaupt ist. Im Gespräch mit der so genannten Freizeitforschung überwindet er den negativen Freizeitbegriff (Freisein von) zu Gunsten einer Definition, die die Freizeit als »Zeit der Freiheit« (164) wahrnimmt und damit zur ethischen Herausforderung erklärt – einer Herausforderung, die von M. Roth (Die Freizeit als Herausforderung für die theologische Ethik, 165–202) aufgenommen und mit einer Theorie des gelingenden Lebens überzeugend verquickt wird: Das Wesen der Freizeit versteht, wer sie in Abgrenzung zur Erwerbsarbeitszeit und zur alltäglichen Pflichtarbeitszeit versteht; die theologisch-ethische Frage nach der Freizeit des anderen ist zugleich die integrale Frage nach den Soll- und Istbestimmungen seiner Lebens- und Selbstgestaltung – und damit nach seiner ganzen Person (172 f.; 200 f.).
Diese »ganze Person« – in Freizeitkleidung, aber auch voller Freizeitstress – steht im Fokus der Betrachtungen von
T. Claudy (Freizeit: Segen, Fluch oder Aufgabe?, 203–221), der ebenso wie der den Band beschließende Beitrag von Arnulf von Scheliha (Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz, 223–240) dem Auseinanderfallen von Arbeitswelt und Freizeitwelt, von Arbeitsethik und Freizeitethik entgegenzuwirken sucht. Schelihas Referat zur Arbeits- und Freizeitethik in der Erlebnisgesellschaft, das– u. a. in Auseinandersetzung mit Thesen von Gerhard Schulze, Max Weber und Daniel Bell – in einem leidenschaftlichen Plädoyer für Fachmenschen mit Geist und Genussmenschen mit Herz mündet, ist das gelungene Fazit einer Debatte, die sicherlich hier und da etwas zu aufgeblasen wirkt, im Ergebnis jedoch wichtig ist und auf die theologische Tagesordnung gehört. Das zeigt der Sammelband!