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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

305–307

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Baumann, Peter

Titel/Untertitel:

Ödön von Horváth: »Jugend ohne Gott« – Autor mit Gott? Analyse der Religionsthematik anhand ausgewählter Werke.

Verlag:

Bern: Lang 2003. 555 S. m. Abb. 8°. Geb. € 51,70. ISBN 3-906770-82-6.

Rezensent:

Klaas Huizing

Eine viele Jahre von der Germanistik kultivierte »Etepetete«-Haltung der Religion gegenüber scheint passé zu sein. Immer häufiger entstehen Dissertationen, die sich dieses Themas mit philologischer Inbrunst annehmen. So promovierte jüngst an der Universität Zürich Peter Baumann mit einer Arbeit über Ödön von Horváth, einen der großen Suhrkamp-Autoren: ›Jugend ohne Gott‹ – Autor mit Gott?
Versprochen wird eine ›Analyse der Religionsthematik‹. Der Begriff Analyse ist offenbar ein weicher Begriff. Darunter kann vieles verrechnet werden, denn B. teilt auf seinen mehr als 550 Seiten ganz ungebrochen seine Begeisterung für den Autor mit, präsentiert glücklich jedes Fündlein – und er wird häufig fündig–, kratzt förmlich an den Druckzeilen, ob sich darunter nicht doch noch eine versteckte religiöse Anspielung verberge. Die philologische Akribie ist bewundernswert. Und die entbehrungsreiche Arbeit im Archiv hat sich durchaus in gewisser Hinsicht gelohnt.
Der Aufbau der Dissertation verrät allerdings eine grundsätzliche Unsicherheit und Schwäche. Offensichtlich muss man sich bei einem frühkindlich stark religiös sozialisierten Autor wie Horváth – der sich kurzzeitig mit dem Gedanken trug, Priester zu werden – bei gestandenen Theologen umsehen, um Horváth gerecht zu werden. B. sieht sich sehr grundsätzlich und beharrlich um. Diese Erkundung teilt er durch ausführliche Referate von über 150 Seiten mit. Seine Lesefrüchte bieten Folgendes an: Michael Schmaus: ›Der Glaube der Kirche. Handbuch katholischer Dogmatik‹ (23–41); Gotthold Hasenhüttl: ›Kritische Dogmatik‹ (41–46); Karl Rahner: ›Grundkurs des Glaubens‹ (46–50); Gerhard Ebeling: ›Dogmatik des christlichen Glaubens‹ (50–63); Joseph Mausbach: ›Katholische Moraltheologie‹ (64–94); Franz Böckle: ›Fundamentalmoral‹ (94–106); Helmut Thielicke: ›Theologische Ethik‹ (107–119); Trutz Rendtorff: ›Ethik‹ (120–138); Stephan H. Pfürtner/Werner Heierle: ›Einführung in die katholische Soziallehre‹ (139–146); Hans Schulze: ›Theologische Sozialethik‹ (147–157); Urs Baumann: ›Erbsünde‹ (158–165); Karl Schmitz-Moormann: ›Die Erbsünde‹ (166–172). Unerfindlich bleibt die Auswahl der Autoren. Gediegenes wird an Ephemeres angeschlossen. Außenseiter stehen neben Klassikern. Die Darstellungen bieten leider nur Referate ohne hermeneutische Durchdringung. Freundlich ausgedrückt: B. versucht sich an einer Kontingenzbewältigungspraxis, denn die für ihn zentralen Begriffe wie Sünde, Erbsünde oder Schuld findet man mutmaßlich in jeder theologischen Studie von einigem Gewicht.
»Mein Ziel ist es zu zeigen, dass unser Autor viele der theoretischen Forderungen aus diesen Büchern in seinen Dramen und Romanen auf die Bühne oder aufs Papier gebracht hat und den Zuschauer oder den Leser so zum praktischen Nachdenken über das eine oder andere religiöse Thema eingeladen und aufgefordert hatte.« (19) So beschreibt B. sein Ziel. Seine umfangreichen Analysen beginnen mit dem Text ›Eine Unbekannte aus der Seine‹, dann folgen ›Mit dem Kopf durch die Wand‹, ›Der ewige Spießer‹, ›Jugend ohne Gott‹, ›Glaube. Liebe, Hoffnung‹, ›Himmelwärts‹, ›Der jüngste Tag‹, ›Pompeji‹, ›Don Juan kommt aus dem Krieg‹, und die Analysen enden mit den ›Geschichten aus dem Wiener Wald‹. In diesen Kapiteln wird immer wieder darauf verwiesen, wie parallel zu den Fragen der Theologen Horváth seine Themen behandelt.
B. bietet also eine Parallelaktion an, die der Leser bitte schön im Kopf zu bewältigen hat. Das mag noch angehen, aber erstaunlich bleibt, wie wenig B. hermeneutisch reflektiert. Worin besteht das Surplus in einer belletristischen Auseinandersetzung mit dem Thema Religion im Verhältnis zur Theologie? Werden neue Möglichkeiten erschlossen? Gibt es einen Sprachgewinn? Wie steht es um die Adressaten? Kommt es zu einem Probeleben auf Seiten der Leser und Leserinnen? Haben wir es hier mit einer gelebten Religion zu tun? Mit einer Privatreligion? Wie muss man das Spannungsverhältnis zwischen Theologie und Literatur ganz grundsätzlich deuten? – Und warum ignoriert B. vollständig die Debatte, die in der Theologie zum Thema seit mehr als 20 Jahren geführt wird? Die Literatur zum Thema hat B. schlicht nicht zur Kenntnis genommen. Keine Erwähnung finden die Forschungen von Karl-Josef Kuschel und seinen Schülern. Das ist einigermaßen er staunlich. Aber auch die Forschungen zum Thema innerhalb der Germanistik lassen B. kalt. Der Name Wolfgang Braungart etwa fällt nicht.
Positiv anrechnen darf man der Studie den Fleiß und die buchstäbliche Lektüre der Texte, die allerdings nicht immer stilsicher vorgetragen wird. B. belässt es aber leider bei einer motivgeschichtlichen Auflistung. »Blicken wir noch einmal kurz auf die Themenvielfalt zurück, die ich in meinem ersten Hauptteil zur Theologie aufgegriffen habe, so zum Beispiel die Beschäftigung mit Gott und dem Reich Gottes, mit der Wahrheit und der Gerechtigkeit, mit der Lüge, dem Bösen (dem Teufel), mit den Engeln und den Wundern, mit der Thematik von Schuld und Sühne, mit der Gnade, mit der Erbsünde und den Sünden im Allgemeinen, mit den Tugenden (u. a. Glaube, Hoffnung, Liebe), mit der Nächstenliebe im Speziellen, mit dem Gewissen, dem Zweifel, der Willensfreiheit und den allgemeinen Freiheiten, mit der Stellung der Frau und der Ehe-Problematik, mit der Institution Kirche und dem Klerus, dem Aberglauben, mit ethischen und moralischen Fragen und auch mit den Bereichen Ar beit und Lohn, Eigentum und Sozialismus …, so kann festgestellt werden, dass Horváth sozusagen alle diese Themenkreise in seinen Werken behandelt hat; und darum ging es mir hauptsächlich in meiner Arbeit, denn wer sich so intensiv mit religiösen Themen auseinandersetzt, der darf mit Fug und Recht als guter Christ, also als Mensch mit Gott, bezeichnet werden. … Meine im Titel zu dieser Arbeit aufgeworfene Frage kann deshalb unumwunden und herzhaft mit einem deutlichen JA! be antwortet werden.« (544.548)
Eine wissenschaftliche Jugend nach Hans-Georg Gadamer! Über den Verlust hermeneutischer Tugenden bin ich einigermaßen erschrocken.