Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2006

Spalte:

300–302

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Voigt, Heinz

Titel/Untertitel:

Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 262 S. gr.8° = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, III/6. Geb. € 24,00. ISBN 3-374-02230-8.

Rezensent:

Martin H. Jung

In der 1980 begonnenen, inzwischen beinahe vor der Vollendung stehenden Reihe »Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen« ragen diejenigen Bände hervor, die mit Blick auf andere Überblickswerke zur Kirchengeschichte echte Lücken füllen. Dazu gehört ohne Zweifel der nunmehr erschienene Band »Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert)«. Wer sich über die Geschichte der Freikirchen informieren wollte, hatte es bislang schwer. Eine Gesamtdarstellung gab es nicht und die gängigen Überblickswerke ließen einen im Stich. Auch in den einschlägigen Lexika, bis hin zur neuesten Auflage der RGG, werden die Freikirchen sträflich vernachlässigt. Am ehesten wurde man noch fündig, wenn man zu Handbüchern über »Sekten« und »Sondergemeinschaften« griff, wo sich die Freikirchen allerdings in einer merkwürdigen und sachlich wie theologisch unangemessenen Reihe mit Organisationen wie Jehovas Zeugen oder der Scientology Church befinden.
Zur Entschuldigung dieses unbefriedigenden Zustandes wird man allenfalls darauf verweisen können, dass es auch mit der Erforschung der Geschichte der Freikirchen nicht zum Besten bestellt war und ist, so dass die Verfasser von Handbüchern und Überblickswerken häufig keine Möglichkeit hatten, sich profund zu informieren. An diesen Forschungsdefiziten sind die Freikirchen ein Stück weit selbst schuld, denn sie haben sich, von Ausnahmen abgesehen, teilweise aus Desinteresse, teilweise aber auch aus Mangel an Kapazitäten wenig mit der kritischen Erforschung ihrer Geschichte befasst. Karl Heinz Voigt (geb. 1934), Pfarrer der Evangelisch-methodistischen Kirche, hat sich seit Jahren um die Freikirchenforschung Verdienste erworben. So war er auch der richtige Mann für die Aufgabe, das KGE-Handbuch zu diesem Thema zu verfassen.
In zehn relativ gleichgewichtigen Kapiteln behandelt V. das Selbstverständnis der Freikirchen, ihre Entstehungsgeschichte und die damit verbundenen theologischen Akzente, das Leben und Wirken der Freikirchen in Deutschland, ihr ökumenisches Engagement, ihr Verhalten in der Weimarer Republik, ihr weitgehendes Versagen in der Zeit des Nationalsozialismus (Überschrift: »Probleme über Probleme«, 163), ihre Situation im Nachkriegsdeutschland und ihre spezielle Geschichte in der DDR und zuletzt: die »Freikirchen an der Wende zum 21. Jahrhundert«. Somit werden auch Ereignisse der allerjüngsten Geschichte noch berücksichtigt.
V. merkt man seine Zugehörigkeit und sein Engagement für die Sache der Freikirchen an. Er schreibt parteiisch, um Verständnis werbend, aber nicht unkritisch. Ein »Problem freikirchlicher Existenz« in der NS-Zeit, aber »vielleicht bis heute«, sei deren »Neigung, sich aus Angst an die öffentliche Meinung anzupassen« (178). V. behandelt die Geschichte, nimmt aber auch die Gegenwart in den Blick und diskutiert sie unter praktisch-theologischen und systematisch-theologischen Aspekten, zum Beispiel wenn er (49) zu aktuellen Diskussionen (2001) um einen Beitritt von Freikirchen zur EKD Position bezieht.
V. verzichtet darauf, die politische und gesellschaftliche Geschichte sowie die allgemeine Kirchengeschichte des 19. und 20. Jh.s zu rekapitulieren, und verweist in diesem Zusammenhang auf die Bände III/3 und III/5 der Reihe. Dadurch gewinnt er Raum, um bei den Freikirchen nicht nur die äußere Geschichte, sondern auch deren Theologie, die vorherrschenden Frömmigkeitsformen und das Engagement in Diakonie und Mission zu behandeln. Der Band informiert u. a. über Methodisten und Baptisten, über die Pfingstbewegung und über die SELK sowie die Evangelisch-altreformierte Kirche. Auch internationale Institutionen wie die Evangelische Allianz und der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen werden behandelt. Besonders wichtig sind die grundlegenden und systematischen Ausführungen V.s zum Selbstverständnis der Freikirchen, zum Begriff der Freikirchen und zu Typen von Freikirchen, zu Bekenntnis und Verfassung sowie zum Thema »Konfession und Denomination« (49). Für V. sind Freikirchen nicht nur gemäß der unmittelbaren Begriffsbedeutung durch ihr Anliegen einer »rechtliche[n] und organisatorische[n] Unabhängigkeit vom Staat, auch in finanzieller Hinsicht« charakterisiert, sondern auch durch »das Bekenntnis des persönlichen Glaubens an Jesus Christus, verbunden mit der ernsthaften Bereitschaft, das Leben dem Willen Gottes entsprechend zu führen« (34).
Es stellt sich die Frage, ob das zweitgenannte, letztlich aus dem Pietismus stammende Anliegen wirklich in einer Begriffsdefinition einen berechtigten Platz hat und sich Freikirchen des »konfessionell-reformatorische[n] Modells« (37) darin wiederfinden. Vielleicht spricht V. an diesem Punkt zu sehr vor seinem methodistischen Forschungs- und Erfahrungshintergrund und mit einem auf die Gegenwart gerichteten Blick. Für das 19. Jh. in Deutschland scheint mir allein das Anliegen der Staatsunabhängigkeit verbindend zu sein.

Hervorzuheben sind schließlich zusammenfassende »Bemerkungen« oder besser Lagebeurteilungen, wie sie sich zum Beispiel auf S. 245 f. finden, wo sich V. zum Verhältnis der Großkirchen zu den Freikirchen äußert.
Kritisch zu vermerken sind eine übergroße Liebe zum Detail und der da mit verbundene vergleichsweise große Umfang des Bandes. Für ein Handbuch zu detailliert wird m. E. zum Beispiel das Engagement der Freikirchen in »Funk und Fernsehen« behandelt. Kritisch zu vermerken ist ferner, dass nicht immer auch aktuelle Zahlen zur Gemeinde- und/oder Mitgliederzahl der behandelten Freikirchen angeführt werden. Zum Beispiel werden bei den Nazarenern konkrete Zahlen genannt (90), wenn auch aus dem Jahr 1993 stammend, nicht aber gleich im Anschluss bei den Siebenten-Tags-Adventisten (90–92). Kritisch zu vermerken ist zuletzt, dass nicht im notwendigen Maß die Geschichte der Freikirchen in der Schweiz einbezogen wurde. Die Freikirchenbildung begann in der Eidgenossenschaft früher und hatte und hat für die kirchliche Landschaft einschneidendere Konsequenzen als in Deutschland. Sicher waren die Vorgaben des Verlags zu beachten, und unter dem im Titel genannten »Deutschland« kann man im 19. und 20. Jh. die Schweiz eigentlich nicht mehr subsumieren. Doch spiegelt die Titelformulierung letztlich den problematischen Germanozentrismus, in dem die deutsche Kirchengeschichtsschreibung in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR vor 30 Jahren gefangen war, und deswegen wäre eine Ausweitung des Blickwinkels auch unter diesem Titel vertretbar und auch machbar gewesen. Ein ergänzendes Handbuch zur Geschichte der Freikirchen in der Schweiz ist nämlich nicht in Sicht.


Das Buch ist sorgfältig gestaltet und gut lesbar, es ist für Studierende, Dozierende und Forschende der Kirchengeschichte gleichermaßen geeignet. Es wurde mit einem Namen- und einem Sachregister ausgestattet und enthält ein umfangreiches Verzeichnis der Spezialliteratur. Zu beinahe allen angeführten geschichtlichen Personen wurden die Lebensdaten ermittelt und angegeben. Alles in allem wird zu wünschen sein, dass der Band starke Beachtung findet und eine lebhafte Rezeption erfährt und dass von ihm viele neue Forschungsinitiativen ausgehen, denn die Geschichte der Freikirchen ist nicht nur für die Angehörigen derselben interessant und wichtig. Vor allem sind Auswirkungen auf den Lehrbetrieb der evangelisch-theologischen Fakultäten und Institute zu erhoffen, wo die Einbeziehung freikirchlicher Perspektiven deswegen ein dringendes Desiderat ist, weil es jede Pfarrerin und jeder Religionslehrer heutzutage im Berufsalltag auch mit Mitchristen zu tun hat, die Freikirchen angehören.