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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

297–299

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Frank

Titel/Untertitel:

Johann Heinrich Horb (1645–1695). Leben und Werk bis zum Beginn der Hamburger pietistischen Streitigkeiten 1693.

Verlag:

Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2004. XII, 389 S. gr.8° = Hallesche Forschungen, 12. Kart. € 58,00. ISBN 3-484-84012-9.

Rezensent:

Martin H. Jung

Das Umfeld des frühen Frankfurter Pietismus wird Zug um Zug weiter erhellt. Neben Biographien und theologischen Studien zu Johann Jakob Schütz (Andreas Deppermann, 2002), Johanna Eleonora Petersen (Ruth Albrecht, 2005) und zur Eschatologie Philipp Jakob Speners (Heike Krauter-Dierolf, 2005) trägt Frank Hartmanns Bochumer kirchenhistorische Dissertation über den Schwager Speners, Johann Heinrich Horb (1645–1695), dazu bei. Dem Pietismusforscher begegnet der Theologe Horb regelmäßig im Kontext der Pia desideria als Verfasser eines Gutachtens, das mehrfach als Anhang zu den Pia desideria gedruckt wurde. Viel mehr war bislang über den Pfarrer aus dem Umfeld Speners, der in Trarbach, Windsheim und in Hamburg wirkte, nicht bekannt. Dabei gehörte er durchaus zu den bedeutenden Persönlichkeiten des frühen Pietismus, denn er war – soweit bislang bekannt ist – »der erste Pietist«, der – schon im Jahre 1678 – (u. a., s. u.) wegen seines Engagements für die Frömmigkeitsbewegung seines Amtes enthoben wurde (1). Bedeutend war Horb ferner als »Mittelpunkt der großen pietistischen Streitigkeiten«, die sich in Hamburg in den Jahren 1693/94 entwickelten (1). H.s Studie erhellt die frühe Biographie Horbs und damit das Umfeld des frühen Pietismus in Frankfurt am Main sowie die Anfänge des Pietismus im Moseltal und in Franken, endet aber – leider – mit dem Beginn der pietistischen Streitigkeiten in Hamburg. Letztere müssten – und werden hoffentlich – bald zu einem eigenen Untersuchungsgegenstand gemacht werden. H. weist auf die »Flut« der hierzu zur Verfügung stehenden Quellen hin (3).

Horb stammte aus Colmar. H. schildert, konsequent der äußeren Chronologie folgend, zunächst die Jugend und die Studienzeit Horbs im Elsass. Beim Studium in Straßburg begegnete er erstmals dem etwas älteren Spener. Das damals begründete Lehrer-Schüler-Verhältnis blieb anschließend bestehen. Weitere Stationen waren Jena, Leipzig, Wittenberg, Helmstedt und Kiel. Eine Studienreise führte Horb nach Holland, England und Paris. Im Jahre 1670/71 hielt sich der gebildete und weit gereiste Horb wieder in seiner Heimat auf und versuchte – erfolglos –, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Bei der Behandlung der verschiedenen Stationen des Lebensweges Horbs gibt H. jeweils Einblicke in die kirchlichen Zustände vor Ort und in die jeweilige Universitätsgeschichte. Neben dem Kontakt zu Spener sind für den frühen Horb auch Kontakte zu Christian Kortholt und Gottfried Wilhelm Leibniz erwähnenswert.
Nach einer kurzen Zwischenstation als Hofprediger in Bischweiler wird Horb im Jahre 1671 Pfarrer in Trarbach und Inspektor des damit verbundenen Oberamts. Damals heiratete er auch die Schwester Speners. In Trarbach begann Horb, ganz im Sinne der Reformbestrebungen in der lutherischen Orthodoxie, wie er sie schon beim Studium in Straßburg kennen gelernt hatte, für die Besserung der kirchlichen Zustände zu wirken. Dem dienten die Einrichtung eines Konsistoriums, Maßnahmen der Kirchenzucht und die Durchführung von Visitationen. In diese Phase seines Wirkens fällt Horbs Gutachten zu Speners Reformprogramm, in dem sich Horb als durch und durch maßvoller Reformer präsentiert. H. analysiert dieses Gutachten Punkt für Punkt und setzt es in Beziehung sowohl zu Speners Reformforderungen als auch zu der von Horb selbst eingeleiteten Reformpraxis (65–75). Kontakte zu den Saalhofpietisten ab 1675 führten bei Speners Schwager zu einer gewissen Radikalisierung. Nun veranstaltete Horb auch
Collegia pietatis. Konflikte, in die Horb verwickelt wurde, führten 1678 zu seiner Entlassung. Es war »die erste Entlassung eines pietistischen Pfarrers«, wie H. mehrfach betont und herausstellt (113), aber die Entlassung erfolgte nicht einfach, weil Horb Pietist war, sondern aus einem Bündel von Gründen, verknüpft mit intriganten Machenschaften. Pointiert könnte man sagen: Vermutlich wäre Horb damals auch entlassen worden, wenn er nicht Anhänger des Spenerschen Reformprogramms gewesen wäre.
Auf Trarbach folgte Windsheim. Horb wirkte erneut als Pfarrer und Superintendent und förderte den Pietismus. Verstärkt bemühte er sich nun um die Jugend, veranstaltete »Kinderlehren« und veröffentlichte einen Katechismus. 1685 wechselte Horb in das ferne Hamburg, wohin er von der dortigen St. Nicolai-Kirchengemeinde gerufen worden war. In der Hansestadt setzte er durch soziale Bemühungen neue Akzente, und wieder veranstaltete er
Collegia pietatis. In Hamburg gab es damals radikalpietistische Kräfte, zu denen Horb auch Kontakt hatte, ohne selbst zum Radikalpietisten zu werden. U. a. hatte Horb in Hamburg und von Hamburg aus mit Johann Jakob Zimmermann und Johann Wilhelm Petersen zu tun. Diese teilweise ganz unverbindlichen Kontakte hatten für Horb nun verhängnisvolle Konsequenzen. Er wurde – ungerechtfertigterweise, wie man heute weiß – beschuldigt, selbst radikalpietistisch zu wirken. Damit begann in Hamburg der große Pietismusstreit. H. zeigt, dass am Anfang nicht die Herausgabe und Verteilung der Poiret-Schrift »Die Klugheit der Gerechten« stand, sondern Berichte und Anschuldigungen einer Magd namens Anna Petersen. Wieder war es aber nicht einfach Horbs pietistische Überzeugung, die 1694 zu seiner Entlassung und zur Ausweisung führte, sondern eine Mischung theologischer, persönlicher und politischer Konflikte. Dieses letzte, spannendste Kapitel von Horbs Berufsbiographie behandelt H. nur skizzenhaft anhand bislang nicht ausgewerteter Quellen und verweist ansonsten pauschal, ohne Einzelheiten zu referieren, auf die profunde Studie von Hermann Rückleben über »Kirchliche Bewegungen und bürgerliche Unruhen im ausgehenden 17. Jahrhundert«, die 1970 erschienen ist, aber einen allgemeinhistorischen Entstehungskontext hat.

H.s Biographie endet unvermittelt mit dieser Skizze der vorletzten Ereignisphase in Horbs Leben. Auf die letzte Phase, die Monate bis zu Horbs Tod am 26. Januar 1695 in Schlems bei Hamburg, wird überhaupt nicht mehr eingegangen.
H.s Horb-Biographie ist sorgfältig gearbeitet und beruht auf Quellen, teilweise auf Archivalien. Unter Letzteren kommt einer bislang unbeachteten Sammlung von Briefen Horbs an Spener eine besondere Bedeutung zu. Verständlich und anschaulich wird Horbs Leben und Wirken präsentiert und der Leser lernt einen wichtigen frühen Pietisten an der Seite Speners kennen. In eigenen, zusammenfassenden Kapiteln werden das Verhältnis Horbs zu Spener behandelt (217–220) und »Hauptlinien in Horbs Theologie« herausgearbeitet (203–216, Zitat 203). Das Werk gibt ferner Einblicke in die Art und Weise, wie damals vor Ort versucht wurde, pietistische Reformanliegen in die Praxis umzusetzen, und welche Probleme und Konflikte sich dabei ergeben konnten. Dies scheint, neben der Darstellung des Lebenswegs Horbs, die eigentliche Leistung der Arbeit für die Pietismusforschung zu sein. Die Umsetzung des pietistischen Reformprogramms wird am Beispiel einer Person und am Beispiel gleich mehrerer Gemeinden detailliert dargestellt. Außerdem enthält das Buch viel regionalgeschichtlich interessantes Material, nicht nur zu Trarbach und Windsheim, sondern z. B. auch über einen pietistisch-enthusiastischen Kreis in Lübeck (337–340). Darüber hinaus bietet H.s Studie aber kaum etwas Neues zur Erhellung von Geschichte und Theologie des frühen Pietismus. Dies soll allerdings nicht H. angelastet werden, der durchweg gründlich und sorgfältig gearbeitet hat, sondern hängt mit dem Gegenstand zusammen: Johann Heinrich Horb war alles in allem keine originelle und keine prägende Gestalt des Pietismus und auch kein großer theologischer Denker. H. hat getan, was man tun konnte, doch Horb gibt eben nicht mehr her. Müßig und auch tatsächlich ohne Ergebnis ist allerdings H.s Versuch, von der neueren Forschung (Markus Matthias, Hyeong-Eun Chi) geschaffene Kategorisierungen der pietistischen Erbauungsversammlungen auf Horbs Collegia an zu wenden (263–269). Das Gleiche gilt für den Versuch, aus Horbs Umgang mit dem Begriff Pietismus Folgerungen für den Pietismusbegriff abzuleiten (346–348).