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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

284–286

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stiewe, Martin, u. François Vouga

Titel/Untertitel:

Das Fundament der Kirche im Dialog. Modelle des Kirchenverständnisses im Neuen Testament und in der konfessionellen Rezeptionsgeschichte.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2003. XIV, 356 S. m. Abb. gr.8° = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 5. Kart. € 34,90. ISBN 3-7720-3155-2.

Rezensent:

Walter Klaiber

Das im Untertitel dieses Buches formulierte Programm fasziniert auf den ersten Blick. Die unterschiedlichen Modelle des neutestamentlichen Kirchenverständnisses auf ihre konfessionelle Rezeptionsgeschichte hin zu untersuchen, verspricht eine längst überfällige Überprüfung und kritische Weiterführung der viel zitierten These Ernst Käsemanns, der Kanon des Neuen Testaments begründe nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielzahl der Konfessionen, eine Aussage, auf die sich die Vf. auch ausdrücklich berufen (4). Aber wie wird dieses Programm durchgeführt und was ist das Ergebnis?
Das Buch gliedert sich in vier große Kapitel, in denen neutestamentliche und kirchengeschichtliche ekklesiologische Mo delle einander unter dem leitenden Gesichtspunkt zugeordnet werden, wer in ihnen als »Subjekt der Kirche« betrachtet wird. In einer kurzen Einleitung (3–5) wird diese Typologie knapp erläutert, ohne dass über die Methode der Zuordnungen Auskunft gegeben wird.
Im ersten Kapitel »Jesus Christus ist das Subjekt der Kirche: Nachfolge Jesu und Sukzession der Apostel« (7–100) werden zunächst Lukasevangelium und Apostelgeschichte »als ekklesiologisches Programm« vorgestellt. Dem wird die Kirchenkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils zugeordnet, gefolgt von einer Analyse von »Dominus Jesus«, dem ekklesiologischen Ansatz des Matthäusevangeliums (»Die Kirche als Raum der Nachfolge«), dem Kirchenverständnis der Bekenntnisse der Waldenser, einer Darstellung der Ekklesiologie des Markus (»Die Kirche als Raum des ›Denkens Gottes‹«) und dem Kirchenverständnis Schleiermachers (»Die Kirche als fromme Gemeinschaft«). In einer ersten Zwischenbilanz werden anhand der Thematik »Das Problem der Treue zum Gründungsereignis: Apostolische Tradition und Gleichzeitigkeit Jesu« Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vorgestellten Modelle herausgearbeitet.
Das zweite Kapitel ist überschrieben: »Christus und der Geist sind Subjekt der Kirche: Katholizität als pluralistischer Universalismus« (101–168). Es beginnt mit dem Kirchenverständnis Luthers, behandelt dann Gal 3,26–28 (»Die Kirche als pluralistische und universalistische Gesellschaft«) und das Kirchenverständnis Melanchthons, kehrt zurück zu Paulus mit 2Kor 12,1–10 (»Der Humor als Kennzeichen der Kirche«) und 1Kor 3, 4–23, beschäftigt sich mit dem Kirchenverständnis Bonhoeffers und zuletzt anhand von 1Kor 12,1–31 und Röm 12,3–8 mit »Gemeinde und Kirche als Leib Christi«. Eine zweite Zwischenbilanz steht unter dem Leitgedanken: »Die theologische Begründung der Katholizität: Die Entdeckung der Subjektivität des neuen Menschen und der pluralistische Universalismus der Kirche«.
Das dritte Kapitel »Gott der Vater und der Herr Jesus Christus sind Subjekt der Kirche: Erwählung und Dienst für, mit und an Menschen« (169–250) steht deutlich unter dem Leitmotiv »Erwählung«. Hier werden das Kirchenverständnis Karl Barths, des Ersten Petrusbriefes und Zwinglis, Eph 1,3–14 (»Die Erwählung der Christen«), das Kirchenverständnis Calvins, Eph 4,1–16 und die Barmer Theologische Erklärung nebeneinander gestellt. Das Thema der Zwischenbilanz lautet: »Die Transitivität der Kirche: Prädestination im Dienste der Menschen und der Schöpfung«.
Das vierte Kapitel schließlich hat das Thema: »Die Dreieinigkeit Gottes ist Subjekt der Kirche: Die Ewigkeit in der Zeit« (251–332). »Die Kirche als Gottesstaat« handelt vom Kirchenverständnis Augustins, darauf folgt eine Betrachtung von Joh 1,1–18, das Kirchenverständnis Kierkegaards, die Geistverheißung im Johannesevangelium (Joh 14,25–27; 16,7–15; 20,19–23), das Kirchenverständnis Emil Brunners, die Bedeutung des Einheitsmotivs in Joh 13,1–2; 13,34 f.; 15,1–17; 17,1–26 und das Kirchenverständnis der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Die Zwischenbilanz ist fokussiert auf »Die Aktualität der Kirche– Zeit und Ewigkeit in der Geschichte«.
Ich habe den Inhalt dieser Kapitel bewusst so ausführlich referiert, um auf ein Problem hinzuweisen. Denn auch nach der Lektüre des Buches bleibt offen, was schon bei der Durchsicht des Inhaltverzeichnisses als Frage auftaucht: Warum werden welche Texte und Modelle in dieser Reihenfolge einander zugeordnet? Natürlich leuchtet manches unmittelbar ein, anderes ist zumindest als eine interessante Verknüpfung verständlich. Johanneische Ekklesiologe, Kierkegaard und Emil Brunner haben sicher Berührungspunkte; aber in derselben »Kategorie« auch Augustin und die Leuenberger Kirchengemeinschaft zu finden, strengt doch die systematische Phantasie an.
Im fünften, abschließenden Kapitel »Ertrag« (333–354) wird die Zuordnung dann auch präzisiert. Das Kirchenverständnis der römisch-katholischen Kirche wird nun mit dem ekklesiologischen Programm des lukanischen Geschichtswerkes verbunden, während die Bekenntnisse der Waldenser zum Nachfolgeaspekt bei Matthäus gehören. »Der Glaube als aktuelles Ereignis« wird im Kirchenverständnis des Markusevangeliums und Schleiermachers verortet. Paulus wird unter dem Stichwort »Subjektivität und Universalität« mit Luther und Melanchthon verbunden und unter dem Aspekt »Der Leib Christi und die Sozialgestalt der Kirche« in Beziehung zu Bonhoeffer und Barth gesetzt. Auch das Johannesevangelium wird unter einer doppelten Perspektive betrachtet: Der Aspekt »Menschwerdung Gottes in der Geschichte« weist auf Augustin, »die Gleichzeitigkeit der Offenbarung« dagegen auf Kierkegaard und Brunner. Zwingli und Calvin stehen dem Gedanken der Erwählung der Kirche im Epheserbrief nahe.
Aber auch hier bleiben Fragen offen. Richtig gesehen ist sicher, dass z. B. die lutherische Ekklesiologie die paulinische Konzeption vom Leib Christi und der damit beschriebenen Sozialgestalt der Kirche nicht rezipiert hat. Aber ist es eine zureichende Interpretation, wenn gesagt wird, das ekklesiologische Modell der lutherischen Reformation verbinde »in ähnlicher Weise, wie wir es von Paulus kennen, die Subjektivität des Glaubens mit der Universalität der Kirche« (338)? Sind damit die Verse Gal 3,26–28 richtig interpretiert, die ja in enger Beziehung zum Leib-Christi-Gedanken stehen? Und müsste für eine heutige Typologie nicht auch berücksichtigt werden, dass die lutherische Ekklesiologie in der Betonung der zentralen Bedeutung der rechten Lehre Impulse der Pastoralbriefe aufgenommen hat?
Vergleichbares gilt für die Einordnung der römisch-katholischen Kirche. Zweifellos ist das Amtsverständnis der Apostelgeschichte eine der Wurzeln katholischer Ekklesiologie. Aber findet sich die grundlegende Ausformung dieser Amtstheologie nicht doch erst bei Ignatius, also nachneutestamentlich? Und weist das nicht auch auf den Sachverhalt hin, dass bei aller grundsätzlichen Anerkennung unterschiedlicher ekklesiologischer Modelle im Neuen Testament die kritische Rückfrage nach der Sachgemäßheit der Weiterentwicklung nicht unterbleiben darf? Für die Vf. bedeutet die legitime Pluralität der Ekklesiologien, dass »die Vielfalt der Kirchen Zeugnis für eine Wahrheit ist, die sich außerhalb von ihnen befindet, die sie alle begründet und auf welche sie zusammen verweisen« (345). Gegen das Modell einer »einheitlichen, vollständigen und spannungslosen ökumenischen Kirche« (zumindest in einem Grundbestand ekklesiologischer Überzeugungen) setzen die Vf. die Überzeugung, »dass jedes Modell seine Aufgabe nur im Zusammenhang mit der ganzen Vielfalt der Modelle erfüllen kann« (347).

Dezidiert wird 1Kor 12,1–31 auf die Vielfalt der Kirchen an gewandt und festgestellt: »Die Gemeinschaft aller Kirchen und aller Gnadengaben, die ihnen jeweils verliehen werden, bilden den Leib Christi« (348). Darum müssen die verschiedenen Kirchen »sich als Kirchen gegenseitig bedingungslos und voll anerkennen« (349), denn: »Die Vielfalt der existierenden Kirchen beruht auf der Vielzahl neutestamentlicher Begründungen der Kirche. Die wechselseitige Anerkennung der Vielzahl von Kirchen bedeutet keine Verleugnung der Wahrheit, sondern führt zu einem vertieften Verständnis der Einheit der Kirche« (354).

So sympathisch diese These ist, so fraglich ist sie doch in exegetischer und systematischer Sicht. Die heutigen Konfessionen repräsentieren nicht einfach die neutestamentlichen Kirchenmodelle, auch wenn sie sich auf das eine oder andere berufen. Das muss sie nicht desavouieren, aber es weist darauf hin, dass ein additives Ergänzungsmodell für die Einheit der Kirche nicht genügt. Die Frage nach der uns verbindenden (oder auch noch trennenden) Wahrheit darf nicht ausgeklammert werden, auch wenn klar ist, dass keine Kirche sie von vorn herein besitzt.
Mit diesen kritischen Bemerkungen soll aber nicht verdeckt, sondern dankbar unterstrichen werden, dass die Vf. ein Werk vorgelegt haben, mit dem auseinander zu setzen sich lohnt und dessen Fülle an interessanten Gedanken diese Rezension nicht annähernd würdigen konnte. Für eine biblisch orientierte ökumenische Diskussion gibt es wichtige Anregungen.