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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

358–360

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Vaux, Roland de(1);Rohrhirsch, Ferdinand(2)

Titel/Untertitel:

Die Ausgrabungen von Qumran und En Feschcha. IA: Die Grabungstagebücher. Deutsche Übersetzung und Informationsaufbereitung durch Ferdinand Rohrhirsch und Bettina Hofmeir. (1); Wissenschaftstheorie und Qumran. Die Geltungsbegründungen von Aussagen in der Biblischen Archäologie am Beispiel von Chirbet Qumran und En Feschcha. (2)

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. XII, 236 S., 50 Pläne u. Skizzen 4°= Novum Testamentum et Orbis Antiquus, Series Archaeologica 1A. geb. DM 108,­. ISBN 3-7278-1073-4 u. 3-525-53980-0.(1); Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. XII, 409 S. gr. 8° = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 32. Lw. DM 132,­. ISBN 3-7278-1076-9 u. 3-525-53934-7. (2)

Rezensent:

Helga Weippert

Vor fünfzig Jahren (1947) wurden in Höhlen westlich des Toten Meers die Schriften gefunden, die inzwischen als "Qumrantexte" ein Begriff sind. Nur wenige Jahre später unternahm R. de Vaux in dieser Gegend Ausgrabungen auf der Chirbet Qumran (1951-1956) und in En Feschcha (1956.1958); doch liegen von ihm und seinen Mitarbeitern nur vorläufige und zusammenfassende Berichte über die Grabungstätigkeit vor. Dieser Mangel machte sich um so stärker bemerkbar, als seit 1960 erneut am Ort Grabungen stattfanden (J. M. Allegro, S. H. Steckoll, A. Drori, J. Strange, M. Broshi, H. Eshel) und als in der wissenschaftlichen Diskussion Thesen aufkamen, die die Deutung der Befunde durch de Vaux modifizierten oder in Frage stellten. Bestand, wie de Vaux darlegte, tatsächlich ein sachlicher Zusammenhang zwischen Qumran, den dortigen Friedhöfen, En Feschcha und den Funden aus den Höhlen, oder sind diese jeweils für sich zu interpretieren? War Qumran Sitz einer religiösen Gemeinschaft (der Essener), wie de Vaux dies meinte, eine essenische Kultanlage in einer Villa aus der Hasmonäerzeit, eine Feinledergerberei der Essener, eine landwirtschaftliche Anlage, eine militärische Festung oder eine Raststätte, ein Warenlager und Zollplatz für Handelsreisende (zu diesen und weiteren in der Sekundärliteratur vertretenen Thesen s. Rohrhirsch, 298-333)? Solange die Grabungsergebnisse nicht solide publiziert waren, fehlte die Grundlage, unter der Vielzahl von Vorschlägen eine gesicherte Entscheidung zu treffen.

Die Situation verbesserte sich erst 1994, als J.-B. Humbert und A. Chambon ein «Album des photographies, Repertoire du fonds photographique, Synthèse des notes de chantier du Père Roland de Vaux OP» als Band I der «Fouilles de Khirbet Qumrân et de Aïn Feshka» veröffentlichten (Novum Testamentum et Orbis Antiquus, Series Archaeologica 1). «Mais hélas», so M. Küchler, der Herausgeber der Reihe: "Das Französische scheint in der wissenschaftlichen Welt nicht mehr genügend beherrscht zu werden, um solche komplexe Texte mit der heute geforderten Schnelligkeit der Informationsaufnahme zu assimilieren" (Rohrhirsch-Hofmeir, VI). B. Hofmeir hat deshalb den Text ins Deutsche übersetzt, und sie hat diese Arbeit gut gemeistert; F. Rohrhirsch hat die "Informationsaufbereitung" besorgt. Beides zusammen ergab den hier vorzustellenden Band IA über "Die Ausgrabungen von Qumran und En Feschcha".

Vergleicht man nun die französische und deutsche Version miteinander, so ist auf beiden Seiten ein Plus und ein Minus zu verbuchen. In der deutschen Ausgabe fehlen die 538 Photographien, die Humbert und Chambon aus mehr als 2000 in der École Biblique vorhandenen Aufnahmen ausgewählt und publiziert haben. Auch bei den gezeichneten Plänen bleibt die deutsche Ausgabe (Abb. 1-36, 3-36) hinter der französischen Vorlage zurück (Abb. I-XLVIII). Zudem ist eine andere Reihenfolge gewählt; in wenigen Fällen (z. B. Abb. 1.29) unterscheiden sich die Zeichnungen von denen in der Originalausgabe. Keine Abweichungen sind bei der Wiedergabe der Grabungstagebücher zu vermerken (deutsche Übersetzung: 37-110; französisches Original: Humbert-Chambon, 291-368). Die Tagebücher geben nicht, das ist zu beachten, die an Ort und Stelle während der Grabung gemachten Notizen wieder, sondern ihre von de Vaux redigierte Fassung, womit nun gleichsam die Erstinterpretation durch den Ausgräber vorliegt. Im französischen Band schließt sich das Verzeichnis der in der École Biblique vorhandenen 2157 Photographien an (369-411), in der deutschen Ausgabe folgen Indices über Sachen (111-115), Gräber (116-118), Münzen (119-131), Keramik (133-146), Fundauflistungen weiterer Kleingattungen (147-158), "visualisierte Häufigkeitsverteilungen zu ausgewählten Fundobjekten" (159-192) sowie Inventarlisten für Chirbet Qumran und En Feschcha (193-224.225-228).

Gewiß ist man den Autoren und den Herausgebern der Reihe dankbar für jede Basisinformation; doch wer sich mit den Ausgrabungen in Qumran und En Feschcha beschäftigt, ist nun gezwungen beide Bände parallel zu benutzen, und stets ist bei den Plänen zu überprüfen, an welchem Punkt die eine Version über die andere hinausführt.

Wurde mit der Publikation der "Grabungstagebücher" versucht, möglichst nahe an die Grunddaten heranzuführen, so stellt das von Rohrhirsch verfaßte Buch ­ die überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift an der Katholischen Universität Eichstätt ­ eine Einführung in die Kunst der Interpretation archäologischer Befunde und Funde am Beispiel von Qumran und En Feschcha dar. Der Vf. geht von der von K. Popper entwickelten Wissenschaftstheorie aus, derzufolge die Lösung von Problemen in drei Schritten erfolgt: 1. Die Erklärung muß die Form einer Theorie haben; 2. die Theorie muß rational-kritische Kriterien erfüllen; 3. der Geltungsanspruch der Erklärung muß anhand geeigneter Methoden überprüfbar, die Erklärung also falsifizierbar sein (3-35). In den drei folgenden Kapiteln (36-88) über die "Biblische Archäologie" im Allgemeinen blieb mir unklar, weshalb der Vf. diese Bezeichnung beibehält. Er definiert "Biblische Archäologie" als autonome, der Vorderasiatischen Archäologie zugeordnete Fachwissenschaft (48.73) und bestimmt als ihr Hauptziel "die Regio", bzw. genauer, deren "ökologische, ökonomische, machtpolitische und soziale Situation ... zu einem bestimmten Zeitpunkt" (73). Ein Zusammenhang mit der schriftlichen, im konkreten Fall der biblischen Überlieferung ist für ihn noch nicht dadurch gegeben, daß sich sowohl die materielle als auch die nicht-materielle Hinterlassenschaft auf ein und dieselbe Wirklichkeit beziehen.

Erst indem diese Wirklichkeit zur Theorie und damit falsifizierbar wird, indem also an die Stelle der Wirklichkeit theoretisch erschlossene "Weltbilder" treten, werden rationale Theoriepräferenzen möglich. Nur auf dieser Ebene lassen sich dem Vf. zufolge Textinterpretationen und die Deutungen archäologischer Befunde und Funde in Beziehung setzen. Dem ist nicht zu widersprechen. Wenn dies freilich ausreicht, um von "Biblischer Archäologie" zu sprechen, könnte man dann nicht genausogut etwa eine "Biblische Assyriologie" betreiben?

Nach allgemeinen Ausführungen über das wissenschaftliche Vorgehen von de Vaux (89-110) folgen als Kernstück der Arbeit die Darstellung der von de Vaux für Chirbet Qumran (111-234) und für En Feschcha (261-287) angesetzten Siedlungsperioden sowie je ein Kapitel über die Friedhöfe von Qumran (235-260) und über die Zuordnung der Höhlen zur Anlage von Qumran (288-297). Entsprechend der wissenschaftsmethodologischen Voraussetzungen werden erst die de Vauxschen Thesen wiedergegeben, dann ihre Geltungsbegründungen dadurch überprüft, daß ihnen konkurrierende, in der wissenschaftlichen Diskussion vertretene Deutungen gegenübergestellt werden. Dabei gelangt der Vf. in der Regel zu dem Ergebnis, daß bislang die von de Vaux vorgebrachten Theorien nach allen Regeln der Kunst der Interpretation, oder vielleicht eher der Kunst der Theorie, denn hier ist die oben genannte Dreischritt-Methode K. Poppers gemeint, am solidesten begründet sind. Indirekt erhält man in diesem Buch folglich sowohl eine zusammenfassende und systematisierende Darstellung der Interpretation durch den Ausgräber als auch eine, allerdings stark verkürzte, Wiedergabe der sich daran anschließenden Diskussion (vgl. bes. 298-333).

Verzeichnisse (337-384), Korrekturen und Ergänzungen zu der oben vorgestellten deutschen Ausgabe der Grabungstagebücher (385) sowie von dort übernommene Pläne (386-408) beschließen das Buch. ­ "Die Wissenschaft braucht eine Theorie" (334-336), das leuchtet ein. Sie braucht aber noch mehr, etwa Details. Deren sachgemäße Einordnung kann so manche Theorie verrücken. Wenn etwa der Vf. gegen N. Golb (324) anführt, die Gräber hätten Beigaben enthalten, und wenn er dann persönlichen Schmuck, der zur Tracht, nicht zu Beigaben gehört, nennt, ferner Scherben aus dem Füllmaterial, die ebenfalls keine Beigaben sind, und schließlich Holzspuren, die als Sargreste interpretiert werden können, die wiederum keine Beigaben, sondern Totenbehälter darstellen (vgl. 236-239), dann ist vielleicht auch die Theorie zu modifizieren. "Die Wissenschaft braucht eine Theorie" und vieles mehr.