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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

282–284

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stanton, Graham N.

Titel/Untertitel:

Jesus and Gospel.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2004. XII, 239 S. 8°. Kart. £ 40,00. ISBN 0-521-00802-6.

Rezensent:

Jens Schröter

Der Band enthält neun Beiträge, denen zum Teil frühere Publikationen des Vf.s zu Grunde liegen. Übergreifende Fragestellung ist die Entstehung und Entwicklung des christlichen Glaubens von seinen Anfängen beim Gebrauch des Begriffs »Evangelium« und den Reaktionen auf das Wirken Jesu bis zur Entstehung des von Irenäus bezeugten »viergestaltigen Evangeliums«. Damit ist zugleich ein Merkmal des methodischen Vorgehens des Vf.s genannt: In etlichen Beiträgen fragt er ausgehend von eindeutigen Indizien in Texten des 2. Jh.s – etwa bei Justin, Irenäus oder Origenes – nach dahinter liegenden, oftmals schwerer zu identifizierenden Entwicklungen.
Der »Jesus and Gospel« überschriebene Teil wird durch den gleichnamigen, zugleich umfangreichsten Beitrag eröffnet. Die in der Septuaginta nicht belegte Verwendung des Singulars »Evangelium« im Urchristentum verlangt nach einer Erklärung. Eine Spur führt auf den Gebrauch des Verbums euaggelizein innerhalb des Zitats aus Jes 61 in der Antrittspredigt Jesu in Nazaret (Lk 4) sowie in der thematisch verwandten Q-Passage Lk 7,19–23/Mt 11,2–6. Der Vf. hält beide Passagen für im Kern authentisch, so dass hier eine Verbindung zur späteren Verwendung des Nomens bestehen könnte.
Der Gebrauch von »Evangelium« im Urchristentum sei damit freilich nicht hinreichend erklärt. Nächstliegende Analogie sei das Vorkommen im Kaiserkult. Zwar lasse sich keine bewusste Konkurrenz zwischen der Verkündigung des Gottessohnes Jesus und der Verehrung des römischen Kaisers feststellen, es sei aber durchaus nahe liegend, dass die frühen Christen den Terminus aus diesem Kontext übernahmen und zur Kennzeichnung ihrer eigenen Botschaft verwandten. Dass der Begriff gleichwohl in Konkurrenz zum Kaiserkult verstanden werden konnte, will der Vf. anhand des Galaterbriefs verdeutlichen. Er hält die Erneuerung der südgalatischen Hypothese für überzeugend und bringt den Gal von daher in Zusammenhang mit dem für das pisidische Antiochien bezeugten Kaiserkult. Ob sich die Rede vom Evangelium Christi im Galaterbrief vor diesem Hintergrund präzisieren lässt und der Kaiserkult in Antiochia deshalb die südgalatische Hypothese stärkt, erscheint allerdings mehr als fraglich. Die Untersuchung weiterer Verwendungen in den Paulusbriefen führt sodann zu dem Ergebnis, »Evangelium« sei Teil eines urchristlichen »Soziolekts« und zum ersten Mal von Matthäus zur Bezeichnung einer Jesuserzählung verwandt worden.
Der Vf. setzt diese Linie in einem bemerkenswerten Beitrag über die Entstehung des viergestaltigen Evangeliums fort (»The fourfold Gospel«). Die bei Irenäus begegnende und durch den Canon Muratori bestätigte Bezeugung des am Ende des 2. Jh.s in der Kirche etablierten Viererevangeliums lasse sich weiter zu rückverfolgen. Der Vf. knüpft hier an Forschungen des 2003 verstorbenen Papyrologen T. C. Skeat an, die diesen zu der Überzeugung geführt hatten, mit P 75 und den von einem Codex stammenden Papyri 64, 67 und 4 lägen zwei Codizes mit allen vier Evangelien vor, die vom Anfang des 3. bzw. vom Ende des 2. Jh.s stammten und damit älter seien als P 45, der bislang als ältester Zeuge galt.
Der Vf. verfolgt diese Spur über Bemerkungen bei Justin weiter zurück bis in die 1. Hälfte des 2. Jh.s. Überaus spannend ist dabei die in einem späteren Beitrag (»Why were early Christians addicted to the codex?«) wieder aufgenommene These eines Zusammenhangs von Vier-Evangelien-Sammlung und Verwendung des Codex im frühen Christentum. Der Vf. lehnt »big bang theories« ab, denen zufolge die Sammlung der Evangelien (Skeat) oder der Paulusbriefe (Gamble) als unmittelbare Ursache der Einführung des Codex anzusehen sei. Er plädiert demgegenüber für ein dreistufiges Modell: Zunächst seien im Urchristentum »notebooks« verwandt worden – kleinformatige Notizbücher, auf denen Schriftstellen, Jesusworte oder auch persönliche Bemerkungen notiert worden seien. Er verweist auf 1Tim 4,13, wo »biblia« neben »membranai« genannt werden, und versteht unter Letzteren unter Verweis auf Quintilian persönliche Notizbücher. Seit dem Ende des 1. Jh.s seien dann Codizes für einzelne Schriften verwandt worden, weil sie auf Missionsreisen besser zu transportieren waren. Bald darauf seien Codizes mit mehreren Schriften hergestellt worden. Das hohe Alter der Vier-Evangelien-Sammlung wird so durch Beobachtungen zur Produktion von Schriften im frühen Christentum unterstützt.
In einem weiteren Beitrag (»Jesus traditions and gospels in Justin Martyr and Irenaeus«) zeigt der Vf., dass Jesusworte (spätestens) seit der Mitte des 2. Jh.s denselben Status wie Zitate aus dem Alten Testament besaßen. Dabei beziehen sich sowohl Justin als auch Irenäus auf die vier später kanonisch werdenden Evangelien, wogegen sich die Kenntnis apokrypher Evangelien bei ihnen nicht nachweisen lasse. Dies ist sicher zutreffend, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im 2. Jh. noch keine deutliche Trennlinie zwischen »kanonischen« und »apokryphen« Jesusüberlieferungen gezogen war.
Zwei weitere Beiträge befassen sich mit frühen Kontroversen über das Wirken Jesu. Ausgehend von Justins Dialog mit Trypho verfolgt der Vf. den Vorwurf, Jesus sei ein Magier und falscher Prophet gewesen, über die Evangelien zurück zum Wirken Jesu selbst. Der Vorwurf werfe Licht auf eine Auseinandersetzung, die von früher Zeit an eine Rolle im Streit um das rechte Verständnis Jesu gespielt habe und deshalb in der historischen Jesusforschung wie auch in der Rekonstruktion der Konflikte des frühen Christentums zu berücksichtigen sei.
Auf analoge Weise wird die Debatte um die Auferstehung Jesu, ausgehend von den Einwendungen des Celsus, rekonstruiert (»Early objections to the resurrection of Jesus«), die auch bei Justin und bereits in der Areopagrede (Apg 17) anzutreffen sei.
Alle Beiträge sind in einem angenehm unprätentiösen, gut zu lesenden Stil verfasst. Insbesondere die Beobachtungen zur Entstehung der Vier-Evangelien-Sammlung und zu ihrem Zusammenhang mit dem Gebrauch des Codex im frühen Christentum sind spannend und im Blick auf die Diskussion über die Entstehung des Kanons weiterführend.