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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

280–282

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Penner, Todd, and Caroline Vander Stichele [Eds.]

Titel/Untertitel:

Contextualizing Acts. Lukan Narrative and Greco-Roman Discourse.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2003. XVIII, 407 S. gr.8° = Society of Biblical Literature Symposium Series, 20. Kart. US$ 39,95. ISBN 1-58983-080-6.

Rezensent:

Knut Backhaus

Der Sammelband geht auf die International Meetings der Society of Biblical Literature in Rom 2001 und Berlin 2002 zurück. Einigen Beiträgen sieht man ihre Herkunft an: Man ist auf der Suche nach dem, was man »fresh and ambitious approach es« zu nennen pflegt. Die »wonderful opportunities afforded by the ISBL meetings« (IX) werden freilich zum intellektuellen Sightseeing kaum genutzt: Zu einer kritisch-lernbereiten Begegnung mit der Acta-Forschung jenseits der USA kommt es selten. Das Ziel der 12 Aufsätze ist es, die Integration des lukanischen Erzählwerks im sozialen und kulturellen – weniger freilich dem unmittelbar religiösen – Verstehenskontext der reichsrömischen Antike zu verorten. Die literarischen Kontexte reichen von den Progymnasmata über die Romanliteratur und Plutarch bis zum homerischen Epos. In methodischer Hinsicht überwiegen vergleichende Querlektüre und soziorhetorische Interpretation.
Hinführend gibt T. Penner (1–21) einen Überblick über die jüngsten Wege der Acta-Forschung und den eigenen Band. Es ist freilich weniger die spezifische Texterschließungsleistung einzelner Ansätze, die er würdigt, als die vordergründige Frage, ob ein Ansatz als »traditional« (diachron orientiert) zu kennzeichnen sei oder »shifts« widerspiegele und welchen »ideologischen« Hintergrund er repräsentiere. Die Selbstwürdigung des Herausgebers »I consider these collected essays in some sense to signal the birthing of a new Religionsgeschichtliche Schule in terms of fundamental method and broad conceptualization« (18) gelangt über den Status einer Geburtsanzeige kaum hinaus und wird durch die folgenden Beiträge weder im Blick auf »religionsgeschichtlich« noch im Blick auf »Schule« eingelöst. Ähnlich selbstbezüglich wirkt der abschließende Beitrag der Mitherausgeberin C. Vander Stichele (311–329), die nicht etwa Apg, wohl aber den eigenen Sammelband auf geschlechtsrollenspezifische Fragen untersucht. Der Rezensent nimmt die Ergebnisse, wenn nicht verblüfft (z. B. 321: »In a larger framework, it is worth observing that female scholars seem to take a greater interest in the narrative parallels from novels, epic, and myth than in historiography«), so doch ratlos zur Kenntnis. Denn am Ende sieht er sich in appellativer Weise über den Kontext der Vfn. im zeitgenössischen »Postcolonialism« informiert, weniger aber mit den kritischen Mitteln einer sozial- und kulturgeschichtlichen Analyse über den Kontext der Apg im hellenistisch-reichsrömischen Geschlechterdiskurs.
Zwischen diesen beiden erdnahen hermeneutischen Polen liegt manche exegetische Höhenerfahrung. J. B. Tyson (23–42) skizziert den Weg der Acta-Forschung von der historischen Auslegung, die freilich die literarische Prägung nicht aus den Augen verlor, zur (sozio-)rhetorischen Kritik, der die narrative Strategie der lukanischen Wirklichkeitskonstruktion deutlich näher liegt als die Frage, wie sich darin, wenn überhaupt, historische Realität widerspiegele. Und doch erhofft er sich von der neuen Fragerichtung auch historische Einsichten, zwar nicht in die er zählte Welt, wohl aber in die zeitgenössische Umgebung des Erzählers, die in der Tat erheblich konkreter profiliert werden müsste als das gängige Abstractum der »Greco-Roman culture«. M. C. Parsons (43–63) gibt, angeleitet durch den repräsentativen Lehrschriftautor Aelius Theon (1. Jh. n. Chr.), ergänzt durch Quintilian, einen sehr hilfreichen Überblick über das Phänomen der Progymnasmata und damit über einen für Lk und sein Lesepublikum erwartbaren (nicht zu ambitionierten) rhetorischen Hintergrund. Gerade der Abschnitt über das diegema gerät zum Aha-Erlebnis, und Darstellungskonventionen und Leserführung der Apg werden durchschaubarer. Eine überzeugende Probe kulturgeschichtlicher Rekontextualisierung legt auch T. Penner (65–104) vor, der den antiken Historiker als narrativen Konstrukteur der stadtstaatlichen Selbstdefinition und Wertevermittlung interpretiert und so Licht auf die (kompetitive!) lukanische Paideia einer neuen christlichen Sozietät wirft. S. Schwartz (105–137) untersucht das dramatische Motiv der Gerichtsszenerie im griechischen Roman. Angesichts von nicht weniger als 14 Gerichtsszenen in Apg fällt der heuristische Gewinn der Querlektüre reichlich aus, und Richard Pervos ebenso wertvolle wie einseitige gattungskritische Studie »Profit with Delight« (1987) gewinnt breitere literarische Dokumentation. Um so interessanter wird so freilich der ebenfalls gattungskritisch akzentuierte Beitrag von D. L. Balch (139–188), der das lukanische Werk mit historiographisch-biographischen Gründererzählungen (Dionysios von Halikarnassos, Ant. Rom.; Plutarch, Vit. par.) vergleicht und so den die maßgebenden Anfangsgestalten kennzeichnenden Wandel der Kommunitätsverfassung (metabole politeion, im lukanischen Fall: die Umformung des Gottesvolkes) zur Völker umspannenden Kirche beleuchtet. Um eine Parallele zu etablieren, liest Balch die Texte mitunter recht weitherzig, und gleich viermal wartet er mit dem dogmatischen Klischee des konstantinischen Abfalls von den reinen Ursprüngen auf (166 f.186–188). Doch im Ganzen birgt die Studie wertvolle Einzelbeobachtungen, und in Bioi und Geschichtswerken der frühen Kaiserzeit dürfte tatsächlich noch mancher Schatz zu heben sein. D. R. MacDonald (189–203) lässt es sich (auch von der sehr differenzierten Kritik an seinem Buch The Homeric Epos and the Gospel of Mark, New Haven, Conn. 2000, durch M. M. Mitchell: Homer in the New Testament?, in: The Journal of Religion 83 [2003], 244–260) nicht nehmen, einmal mehr eine neutestamentliche Schrift als Echo auf das homerische Epos zu lesen, und konzentriert sich hier auf Hektors Abschied von Andromache (Il. 6) im Vergleich zur Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20). Da er die »Parallelen« synoptisch beifügt, kann sich der Leser rasch davon überzeugen, wie blass und konstruiert sie sind. Der an sich attraktive Gedanke, das verbreitete homerische Œuvre könnte Lk beeinflusst haben, wirkt nach der Lektüre unplausibler als zuvor, sollte aber in kontrollierterer Weise zumindest motivgeschichtlich noch einmal »ausprobiert« werden. Da MacDonald auf die Auseinandersetzung mit der aktuellen Acta-Forschung verzichtet und nicht gerade zu subtilen exegetischen Unterscheidungen neigt (190: »Luke-Acts is thus epic, not history«), bleibt dem Leser wenigstens, »it must be said, fun to read as a piece of highly inventive literary criticism« (M. M. Mitchell, a. a. O., 251 f.). Dies gilt nicht minder für A. L. Wordelman (205–232), die – nach einem nicht recht ergiebigen Forschungsüberblick über die Lystra-Episode Apg 14– die oft erwogene Bezugnahme auf den Legendenstoff von Philemon und Baukis durch eine auf Lykaon, den mythischen König von Arkadien, ersetzt, der sich – darin den aggressiv werdenden Lykaoniern vergleichbar – in einen Wolf verwandelt hat. G. Gilbert (233–256) interpretiert die lukanische Darstellung von Jesus als Retter und Friedensbringer, von Jesu Himmelfahrt und die Völkerliste in Apg 2 vor dem Hintergrund reichsrömischer Selbstpräsentation und gelangt in dieser sehr lohnenden Vergleichsarbeit zu dem triftigen Schluss, dass gerade in solcher Imitation politischer Geltungsansprüche ein kritisch-konfrontativer Zug des sonst so oft als apologetisch-romfreundlich gesehenen Lk liegt. Fast wie ein europäischer Block zwischen den synchron-komparativen Perspektiven wirkt der Beitrag von S. Byrskog (257–283), der – ganz in der Linie von Lk 1,1–4 – zwischen »story« und »history« zu vermitteln sucht, indem er die Wir-Passagen als literarisches Resultat eines komplexen Prozesses narrativer Reoralisation erklärt, die auf extrafiktionale Realität verweist. Dass sich in diesem Band eine solche Warnung vor Komplexitätsreduktionen findet, nimmt man dankbar wahr. Wie nötig sie ist, belegt der Aufsatz von M. Moreland (285–310), der die soziale Identität stiftende Funktion der Mythenschöpfung betont und die Darstellung der Jerusalemer Urgemeinde in diesem Licht interpretiert.
Im Überschwang der oft berechtigten Entdeckerfreude werden die Autoren dem Verstehensgewinn der herkömmlichen diachronen Methode nicht immer gerecht. Aber die historische Perspektive ist stark genug, sich auch in neuen Konstellationen zur Geltung zu bringen, und zu solchen Konstellationen leistet der Sammelband insgesamt einen beachtenswerten Beitrag. Freilich, eine Frage bleibt: Wieviel Text braucht ein Kontext? Der Abstand mancher Beiträge zum lukanischen Bezugstext in seiner Eigendynamik scheint mir ein ernstes Gravamen zu sein: Hätte der Rezensent beim nächsten ISBL Meeting ein Transparent am Gastort anzubringen (was unwahrscheinlich ist), so schriebe er den innovationsbegeisterten Reisenden als Motto, von George Steiner beflügelt, eine alte Weisheit darauf: »Der erste Kontext seid ihr selbst: Beginnt zu lesen!«