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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

278 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Gerd

Titel/Untertitel:

Primitive Christianity. A Survey of Recent Studies and Some New Proposals. Transl. By J. Bowden.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International 2003. 232 S. Kart. £ 19,99. ISBN 0-5670-8810-3.

Rezensent:

Eduard Lohse

Dieses Buch fasst den reichen Ertrag langjähriger gelehrter Beschäftigung mit der Apostelgeschichte sowie der Geschichte des frühen Christentums zusammen. L. hatte in der Theologischen Rundschau 2000 (121–179.285–349) einen umfassenden kritischen Literaturbericht unter der Überschrift »Das Urchristentum. Eine kritische Bilanz seiner Erforschung« vorgelegt und damit an die Forschungsübersichten angeknüpft, die einst Hans Windisch und später Werner Georg Kümmel verfasst hatten. Dieser Bericht ist inzwischen durchgehend überarbeitet und beträchtlich erweitert worden, vor allem durch intensive Berücksichtigung zahlreicher Publikationen in der angelsächsischen Welt. Somit wird nun eine umfassende Übersicht über den Stand gegenwärtiger wissenschaftlicher Arbeit über das Urchristentum dargeboten. Mit scharfem Auge mustert L. die vielen Studien daraufhin, was sie jeweils dazu beitragen können, ein verlässliches Bild von den ersten Anfängen der Christenheit zu gewinnen. Dabei werden die beträchtlichen Schwierigkeiten, die sich dem prüfenden Historiker in den Weg stellen, umsichtig beschrieben und gewürdigt. So kann aus der Fülle vorliegender Publikationen die Spreu vom Weizen gesondert und allen Forschern, die über die früheste Christenheit arbeiten, ein kundiger Ratgeber angeboten werden.
Der Berichterstatter ist sich dessen bewusst, dass jeder Gelehrte, der sich heute ans Werk macht, auf den Schultern der Väter und Großväter steht und aus ihren Einsichten, aber auch aus ihren Fehlern zu lernen hat. Nach einleitenden Bemerkungen, die die gestellte Aufgabe genauer bestimmen, wird die kritische Sichtung in sieben Abschnitten entfaltet, die jeweils bestimmte inhaltliche Fragestellungen genauerer Untersuchung unterziehen. Im ersten Abschnitt wird der Ausgangspunkt bei W. Bauers bahnbrechender Studie über »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (1934, 21964) genommen, ist darin doch eine grundlegend neue Sicht entfaltet worden: Was sog. Rechtgläubigkeit sei, stehe nicht am Anfang des geschichtlichen Vorgangs, sondern werde erst in einem – oft mühsamen– Prozess der Auseinandersetzung zwischen sog. Ketzerei (konkret weitgehend der Gnosis) und sich herausbildender normativer kirchlicher Lehre gewonnen. Bauers methodische Einsichten sollten bei allen Studien, die sich mit dem Urchristentum beschäftigen, Berücksichtigung finden.

Auf die einführenden Ausführungen über Aufgabe und Methode folgt ein zweiter Abschnitt, der verschiedene Werke Revue passieren lässt, die einen Überblick über die früheste Geschichte der Christenheit zu zeichnen suchen. Unter ihnen wird den Arbeiten von Schenke, Burchard, Becker, Lampe und Luz besondere Beachtung zugewandt, hinter deren Beiträgen viele andere – teilweise erheblich – zurückbleiben. Denn die Frage, was denn wirklich geschehen sei, wurde vielfach nicht mit hinreichender Klarheit in den Blick gefasst.
Der dritte Abschnitt betrifft sozialgeschichtliche Studien, die von einer neuen, teilweise jedoch modisch bestimmten Sichtweise geleitet sind. Als besonders lehrreich werden dabei Untersuchungen von Schmeller, Plümacher u. a. herausgestellt. Sog. feministische Untersuchungen, die sodann betrachtet werden, leiden vielfach unter tendenziös bestimmter Perspektive. Kritisches Urteil wird ohne Ansehen der Person von L. ausgesprochen. Der aufmerksame Leser wird gut beraten sein, wenn er die begründeten Warnungen beachtet und sich sein eigenes Urteil zu bilden sucht.
Im fünften Abschnitt gelangen Untersuchungen zur Darstellung, die das Urchristentum vor dem Hintergrund der Umwelt des Neuen Testaments betrachten. Dabei werden als herausragende Beispiele Studien von H.-J. Klauck, H. D. Betz, P. van der Horst, D. Schwartz, P. Lampe und P. Pilhofer gewürdigt. Mit vollem Recht wird hervorgehoben, dass die Anfänge des Christentums nur dann zutreffend betrachtet werden, wenn man sie im weiteren Rahmen ihrer Zeit und Umwelt zu charakterisieren weiß. Der sechste Teil des Berichts wendet sich Abhandlungen zu, die einzelne Zentren des frühesten Christentums würdigen – Rom, Antiochia, Makedonien, Ephesus und Kleinasien. Und schließlich werden im siebten Abschnitt Untersuchungen zu einzelnen Problemkreisen besprochen. Unter ihnen wird besondere, verdiente Anerkennung dem Buch von H. Conzelmann »Heiden – Juden – Christen« zuteil, dessen Inhalt ausnahmslos aus gründlichem Studium der Quellen gearbeitet ist und ein »masterpiece of an exegete with a solid classical education« (140) genannt zu werden verdient.


Am Ende wird unter die Überschrift »Conclusion« knapp und präzis das Ergebnis der umfangreichen kritischen Prüfung beschrieben (145 f.). Den Ausgangspunkt einer jeden Beschäftigung mit dem Urchristentum hat die Analyse der authentischen paulinischen Briefe zu bilden. Sodann heißt es, dass das Urchristentum nur dann zutreffend verstanden werden kann, wenn es aus seinen eigenen Voraussetzungen – und nicht nach modischen Aspekten unserer Zeit – betrachtet wird. Dabei kommt methodischen Erwägungen jeweils dienende, nicht herrschende Funktion zu. Und zuletzt: Von hoher Bedeutung bleiben vor allem die jeweiligen jüdischen Voraussetzungen der ersten christlichen Gemeinden, so dass der Rat gegeben wird: »Any history of primitive Christianity should contain an introduction part on Judaism in the Mediterranean world.« (146)
Zwei an den Schluss gestellte Exkurse betreffen einerseits den schwierigen Problemkreis einer sog. vorchristlichen Gnosis, andererseits eine kritische Auseinandersetzung mit G. Theißens Buch »Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums«. In allen Besprechungen werden dem Leser klare und förderliche Informationen gegeben. Die englische Sprache, deren verbindlicher Ausdrucksweise sich die Ausführungen bedienen, übt wohltuende Wirkung aus. Denn auch da, wo deutlich zwischen Licht und Schatten unterschieden werden muss, wird nirgendwo das Urteil in verletzender Schärfe gefällt, sondern ist stets so gehalten, dass förderlicher Dialog eröffnet wird. Dieser kundige Begleiter kritischer Forschung verdient darum gebührende Beachtung und Anerkennung.