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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

275–178

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Krauter, Stefan

Titel/Untertitel:

Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. XIV, 505 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 127. Lw. € 118,00. ISBN 3-11-018174-6.

Rezensent:

Markus Öhler

Die von H. Lichtenberger und H. Cancik in Tübingen betreute Dissertation ist ein ausgesprochen anregendes Buch, das für die weitere Forschung zur Geschichte des Judentums, des frühen Christentums bis hin zur antiken Religionsgeschichte von Bedeutung sein wird.
Dem Vf. geht es in seiner Arbeit um eine doppelte Fragestellung: Waren Menschen in der Antike grundsätzlich verpflichtet, sich an bestimmten Kulten zu beteiligen, die in ihrer Stadt oder auf Grund ihrer Herkunft von besonderer Bedeutung waren? Und umgekehrt: Waren Menschen auf Grund ihrer politischen und ethnischen Zugehörigkeit von bestimmten Kulten grundsätzlich ausgeschlossen? Es geht also um einen entscheidenden Aspekt des religiösen Lebens in der Antike, um die Frage des Verhältnisses von Gesellschaft und Kult, von individueller Religiosität und gemeinschaftlicher Kultpraxis.
In einem ersten Abschnitt (5–28) widmet sich der Vf. verschiedenen Forschungsansätzen zur antiken Religionsgeschichte. Die Kategorien Volksreligion und Universalreligion (Wach, Mensching), die strukturalistische These von der Einheit von Gesellschaft und Religion (u. a. bei Vernant und Schmitt Pantel) sowie die Deutung der antiken Kulte als »civic religion« (u. a. bei Beard, Price und North) werden knapp dargestellt und bewertet. Vor allem die letzte These, die nicht nur eine Reihe von neuen Fragen aufgeworfen hat (nicht zuletzt auch jene des Vf.s), hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr durchgesetzt und ist auch für die theologische Debatte um die New Perspective wichtig (29–42). Umso bedeutsamer ist es daher, dass der Vf. wesentliche Grundaxiome anhand der zahlreichen Primärquellen untersucht.
In methodischen Überlegungen werden die Rahmenbedingungen dafür abgesteckt (43–50), wobei vor allem die zeitliche Eingrenzung wichtig ist: Der Vf. »beschränkt« sich im Wesentlichen auf Quellen aus der Zeit des Hellenismus (sakralrechtliche Texte sowie Werke antiker Gelehrter und Historiker), schließt also die Kaiserzeit und damit jene des frühen Christentums aus. Lediglich für das Judentum erweitert sich dieser Zeitraum bis 70 n. Chr. Die Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft ist deswegen nicht gering, aber doch ein wenig relativiert. Vor allem der Kaiserkult wäre gerade hinsichtlich der Kompulsivität interessant gewesen.
Im Hauptteil der Arbeit werden die Themen Exklusivität und Kompulsivität behandelt, wobei jeweils zunächst der griechische Bereich, sodann die römische Religion und schließlich das Judentum in den Blick genommen wird.
Zur Exklusivität in griechischen Kulten (54–113) untersucht der Vf. Zugangsregelungen, die Möglichkeit einer Beteiligung von Fremden an Kulthandlungen, die Gewährung von Kultämtern sowie – gesondert – die Bestimmungen in Mysterienkulten. Bereits hinsichtlich jener Quellen, die Einschränkungen für den Zugang zu Heiligtümern überliefern, wird deutlich, dass es sich dabei um regionale, auf bestimmte Herkunft abzielende bzw. zeitlich bedingte Verbote handelte, denen eine generelle Offenheit der Tempel sowohl für Bürger als auch für Nichtbürger gegenüberstand (66 f.). Auch an Festen konnten sich zumeist alle Einwohner einer Stadt beteiligen (76), und Kulthandlungen waren – teilweise unter Beteiligung eines Vermittlers (Proxenos)– durchaus möglich. Mysterienkulte waren zumeist ebenso offen (100–105), wie sich auch an Vereinskulten Fremde selbstverständlich beteiligen konnten (109). Dasselbe Bild ergibt sich im Übrigen für die römische Religion (113–142): Einschränkungen waren Ausnahmen bzw. sind durch die dafür zumeist genannten Quellen nicht belegt. Der Zugang wurde über die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Schichten geregelt, nicht über die ethnische Herkunft.
Besonders brisant ist die Frage der Exklusivität im Blick auf das Judentum (143–229). Ein zentrales Dokument des Ausschlusses von Nicht-Juden vom Kult ist die Tempelinschrift (OGIS 598; Jos. c. Ap. 2,103 u. ö.), der der Vf. entsprechend viel Raum widmet. Dabei spielt die Definition der dort genannten allogenes eine wichtige Rolle. Der Vf. hält die Reduktion auf eine ethnische oder nationale Ausgrenzung für eine starke Vereinfachung und bescheidet sich damit, dass eine genaue Aussage, wer denn nun im Herodianischen Tempel vom Betreten des inneren Hofes ausgeschlossen war, nicht zu treffen ist. Die Bereitstellung von Opfertieren – die Opfer selbst wurden ja stets durch Priester vollzogen – war hingegen für jeden möglich, wenn auch umstritten (4QMMT, Josephus). Abseits des Jerusalemer Tempelkultes spielt auch die Frage nach Gottesfürchtigen und Proselyten eine wichtige Rolle für die Frage der Exklusivität des Judentums. Die Praxis war hier sehr viel offener, als einzelne literarische Zeugnisse es vermuten ließen. Allerdings scheint mir der Vf. die sozialen Komponenten (soziale Herkunft, Beschneidung) zu gering zu gewichten. Im Wesentlichen ist dem Vf. aber zuzustimmen: Auch das Judentum war keine exklusive Religion, weder in Judäa noch in der Diaspora.

Im Blick auf die Kompulsivität antiker Religionen ergibt sich ein ähnliches Bild (230–386). Wenn Regeln überliefert sind, die Bürger einer Stadt zur Teilnahme an bestimmten Kulten oder Kulthandlungen verpflichteten, dann sind sie eher als Dokument dafür zu werten, dass grundsätzlich die Beteiligung frei gestellt war. In den griechischen Poleis herrschte eine religiöse Dynamik, eine »Spannung zwischen individueller und kollektiver Religion« (264), die ein Ideal entstehen ließ, die »Polisreligion«, das aber nur punktuell durchgesetzt wurde. In der herkömmlichen Praxis sah es anders aus. Auch Juden (265–279) waren nicht dadurch in ihrer gesellschaftlichen Stellung entscheidend beeinträchtigt, dass sie sich an den klassischen Polis-Kulten nicht beteiligten. Pogrome hatten stets individuelle Anlässe, in denen neben anderen auch religiöse Fragen eine Rolle spielten.
Die römische Religion war nicht völlig frei von Zwängen, wobei vor allem das Vorgehen gegen fremde Kulte vom Vf. besonders in den Blick genommen wird (290–304). Die einzelnen Belege für die Zerstörung von Kultanlagen bzw. die Ausweisung von Anhängern und Anhängerinnen aus dem Zeitraum 429 v. Chr. bis 49 n. Chr. zeigen, dass es sich dabei um punktuelle Aktionen handelte. Zumeist – mit Ausnahme der Bacchanalia– wurden fremde Kulte nicht verfolgt. Selbst dann ging es um die Zurückdrängung aus dem öffentlichen Raum, private Religiosität wurde nicht bestraft. Die Vertreibungen von Juden und Jüdinnen aus Rom (304–325) sind ebenfalls nicht als Teil einer »Verteidigung einer vorhandenen religiösen Homogenität gegen Störungen von außen zu verstehen, sondern jeweils als punktuelle Maßnahme« (325). Daraus wird, wie in anderen Aktionen gegen fremde Kulte, der Wunsch der Elite nach religiöser Homogenität deutlich sowie der Anspruch, diese herzustellen. Die tatsächlichen Verhältnisse sind darin aber nicht zu erkennen. Rom war wie der griechische Raum nicht durch Kompulsivität gekennzeichnet, sondern durch eine Vielfalt, die aus verschiedenen Anlässen und zu verschiedenen Zeiten problematisch wurde.
Dies gilt dem Vf. nach auch für das Judentum (325–386). Strafregelungen für Abweichungen von der Tora wurden unter der Herrschaft der Makkabäer wichtig. Die Differenzen zwischen Hasmonäern und Pharisäern beruhten auf der unterschiedlichen Halacha, wobei es sich auch hier um punktuelle Aktionen mit teilweise symbolischer Bedeutung handelte. In der Gemeinschaft hinter den Qumrantexten, die eine Reihe von Vergehen und Strafen anführen, herrschte ein starker Gruppendruck, wenngleich auch hier »ein Raum individueller Freiheit« (369) blieb. Auch veränderten sich bekanntlich die Praxis und die damit verbundenen Normen. Synagogen in der Diaspora, die der Vf. sowohl als landsmannschaftliche Vereine als auch als politische Institutionen versteht, hatten eine eigene Gerichtsbarkeit, die Strafen verhängen konnte. Hier werden die neutestamentlichen Belege 2Kor 11,24, Apg und Joh (zu) knapp behandelt. Erneut argumentiert der Vf. damit, dass es sich nur um punktuelle Maßnahmen gehandelt habe.
In einem »Ausblick« stellt der Vf. exemplarisch zwei antike Autoren vor, die sich über das Verhältnis von religiöser und politischer Zugehörigkeit Gedanken machten: Cicero und Philon von Alexandrien (387–418). Beide argumentierten mit dem Gedanken zweier »Heimaten«: »Die eigene, partikulare Position wird als universal gültige behauptet. Es wird jedoch erkannt, daß ihre universale Durchsetzung nicht mit Zwang geschehen kann.« (418) Eine kulturelle und religiöse Homogenität war hingegen eine »wirklichkeitsferne Ideologie« (ebd.).


Die Argumentation des Vf.s ist vorsichtig: Er geht auf Einzelfälle ausführlich ein und liefert plausible Interpretationen, die oftmals zeigen, dass die herkömmliche Deutung nicht zu halten ist oder zumindest nicht hergibt, wofür sie verwendet wurde: Weder lässt sich ein Zwang zur Verehrung bestimmter Götter für die hellenistische Antike belegen noch der grundsätzliche Ausschluss Fremder für lokale Kulte. Religion kann auf Grund der Quellen auch in der Antike nicht als das bestimmende Element zur Konstituierung von Identität verstanden werden. Der Vf. kann dies über weite Strecken überzeugend belegen.
Vor allem im Blick auf jüdische Zwangsmaßnahmen scheint mir seine Vorsicht aber zu groß zu sein. Die zahlreichen »punktuellen Maßnahmen« sind doch wohl ein Hinweis darauf, dass Kompulsivität im Judentum durchaus ein wichtiges Element war. Wenn allein Paulus für eine Phase von vielleicht zwei Jahrzehnten davon berichtet, fünf Mal die Prügelstrafe der Synagoge durch litten zu haben (2Kor 11,24), dann dokumentiert dies eine verbreitete jüdische Praxis, wenigstens im geographischen Raum der paulinischen Mission. Dass es dabei, wie der Vf. meint, nicht primär um die Bewahrung von nationaler Identität, sondern um die Befolgung des Gotteswillens ging, ist freilich zutreffend.
Die Arbeit leistet – ungeachtet der wenigen Kritikpunkte – nicht nur einen wichtigen Forschungsbeitrag, sondern stellt auch vor neue Aufgaben, etwa hinsichtlich der Ursachen für die Bedrängnisse christlicher Gemeinden im paganen Kontext oder zur Bedeutung nationaler Identität im Konflikt mit dem Judentum.