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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

273–275

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kowalski, Beate

Titel/Untertitel:

Die Rezeption des Propheten Ezechiel in der Offenbarung des Johannes.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2004. XII, 529 S. m. Abb. u. Tab. 8° = Stuttgarter Biblische Beiträge, 52. Kart. € 40,90. ISBN 3-460-00521-1.

Rezensent:

Otto Böcher

In keiner Schrift des neutestamentlichen Kanons finden sich so viele Anspielungen auf prophetische Bücher des Alten Testaments wie in der Offenbarung des Johannes. Weit zahlreicher als Bezüge etwa auf Jesaja und Jeremia sind, wie schon ein Blick in Appendix III des »Nestle-Aland« lehrt, die Berührungen der Johannes-Apokalypse mit dem Buch Ezechiel. Freilich sind da runter nur fünf wirkliche Zitate (Offb 2,7; 7,1; 10,10; 18,18; 21,7; vgl. 252–262), denen eine überraschende Fülle von ezechielischen Anspielungen gegenübersteht; zum Teil von der Vfn. entdeckt, gehören diese sowohl der Wort- als auch der Strukturebene an. Eine umfassende Untersuchung dieses Phänomens stand bisher noch aus; aus ihr mussten sich wichtige Erkenntnisse zum Selbstverständnis des einzigen prophetischen Autors des Neuen Testaments ergeben, insbesondere zu seinem Visions- und Inspirationsverständnis (8 f.). Ist die Literatur des alttestamentlichen Prophetismus für den christlichen Apokalyptiker nur »Hintergrund« oder sieht er sich als Propheten, der noch im »Alten Testament« (so die Vfn. konsequent und absichtsvoll, vgl. 7, Anm. 38) beheimatet ist und dieses gleichsam von innen her »fortschreibt« (12 f.)?
Die vorliegende Monographie ist die 2003 von der Universität Innsbruck angenommene neutestamentliche Habilitationsschrift der Vfn., die bereits seit einigen Jahren durch Aufsätze zu Fragen der Johannes-Offenbarung hervorgetreten ist. Neu und zukunftsweisend an ihrer Untersuchung ist der Um stand, dass hier den Spuren der Ezechiel-Rezeption durch die Apokalypse des Johannes erstmals für alle 22 Kapitel der Johannes-Offenbarung nachgegangen wird, so dass die Frage nach hermeneutischen Konsequenzen eine gesicherte Basis erhält.
In einer ausführlichen Einleitung (1–69) erörtert die Vfn. zu nächst die Fragestellung. Dann bietet sie, ausgehend von Strack-Billerbeck, einen Überblick über die »Forschungsgeschichte zur Rezeption des AT – insbesondere des Ezechiel – in der Offenbarung« für die Exegese seit 1962. Eine Übersicht über »Alttestamentliche Anspielungen in der Offenbarung« (Traditionen wie Moselied, Dreizeitenformel, Institutionen, Personen, Geographie und Theologie, altestamentliche Sprache), gebündelt in einer graphisch veranschaulichten Statistik, führt zur Erläuterung der methodischen Entscheidungen und des Aufbaus der Arbeit (52–69).
Der erste Hauptteil (70–275) ist eine »sprachliche Untersuchung aller Anspielungen auf Ezechiel« auf der Wortebene. In ungemein sorgfältiger Detailtreue analysiert die Vfn. zunächst die »Mischanspielungen auf Ez, Dan und Jes« in den einzelnen Kapiteln, sodann die Anspielungen auf Ezechiel in den einzelnen Versen von Offb 1–22 unter wörtlicher Heranziehung des hebräischen und des LXX-Texts von Ezechiel. Das Ergebnis dieser Einzelexegesen – unter steter Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur – sind vor allem zwei große Synopsen: eine Zusammenstellung der »Anspielungen und Zitate (sc. aus Ezechiel) in der Offenbarung, geordnet nach dem Versverlauf der Offenbarung« (251–262) und eine Liste der »mehrfach rezipierten Verse aus Ezechiel« in der Offenbarung, geordnet nach den Versen des Ezechiel (271–273). Die Auswertung, unter Einbeziehung auch der nur einmal rezipierten Ezechiel-Verse (273–275), führt u. a. zu dem Ergebnis, dass es »in erster Linie die Visionserzählungen« des Ezechiel waren, die dem Apokalyptiker »Vorbild für die Formulierung der eigenen Schrift gewesen sind« (275). Hinzu kommen thematische Berührungen zur Untreue bzw. zum Götzendienst Israels (ebd.).
Im zweiten Hauptteil (276–472) untersucht die Vfn. »strukturelle Bezüge zwischen Ezechiel und der Offenbarung« auf der Strukturebene, also hinausgehend über das hier wie dort begegnende Wort, gemeinsame Strukturen beider Schriften bzw. einzelner Abschnitte. Dazu gehören »Gemeinsamkeiten im Gesamtaufbau« wie der »Raumwechsel in den Visionserzählungen als Strukturprinzip« oder die »zweimalige Verwendung von Motiven und Textabschnitten«. Gemeinsamkeiten – bei allen Unterschieden – finden sich auch bei den Verfassern (Prophet Ezechiel – Prophet Johannes) und ihren Adressaten (Israel im Exil – Christen in Kleinasien). Ganze Textabschnitte werden aus Ezechiel rezipiert, wenn es um Berufungserzählungen und Visionen Gottes bzw. Christi geht. Dasselbe gilt für die »Besiegelung der Erlösten und Kennzeichnung der Anhänger des Kaiserkults«, für das Vermessen des Tempels, für die untreuen Frauen (Israel– Babylon), für die Hoffnung auf Auferstehen, für Gog und Magog sowie für die Abschlussvisionen vom neuen Jerusalem. Auch Einzelmotive und Gattungen bzw. Sprachformen werden rezipiert (Propheten/Prophetinnen, Stadt als Frau, Theophaniezeichen, Buchrolle, Plagen Gottes). Auf Grund der Ergebnisse der strukturellen Untersuchung kann die Liste sicherer Anspielungen ergänzt werden (Synopse: 465–468). Die »strukturelle Beeinflussung der Offenbarung durch Ezechiel« wird deutlich (469 f.); eine weitere Synopse dokumentiert die Anspielungen der Offenbarung des Johannes auf Textabschnitte des Buches Ezechiel (471). Von Offb 18 an entspricht die Abfolge derje-nigen der Kapitel Ez 37–48; »maßgeblich für die Struktur der Offenbarung sind insbesondere die vier großen Visionserzählungen des Ezechiel« (472).
Teil III (473–501) formuliert dann den »Ertrag für das Verständnis der Offenbarung (Hermeneutik)«. Ein erstes Kapitel fragt nach der »Rezeptionsweise des Buches Ezechiel in der Of fenbarung« und weitet die Beobachtungen des Paradigmas Ezechiel/Offenbarung auf das Verhältnis des Neuen Testaments zum Alten aus. Grundsätzlich gilt, dass die Blickrichtung der Interpretation sowohl retrospektiv (Zweck der Rezeption des alttestamentlichen Texts durch den neutestamentlichen Autor) als auch prospektiv (Wirkung einer Anspielung auf den Leser) erfolgen muss (473 f.). Die Offenbarung des Johannes ist weder Pescher noch Targum zu Ezechiel (474), sondern christliche Prophetie, die in freiem, gelegentlich sogar antithetischem Um gang mit Ezechiel rezeptiv auf verschiedenen Ebenen erfolgt (sprachliche, strukturelle, inhaltliche Ebene, 478–481). Diese differenzierende Beobachtung wird in einem zweiten Kapitel für die Problematik der »Echtheit« der Visionen der Apokalypse fruchtbar gemacht (»Visionsverständnis: Zum Verhältnis von [sprachlichen] Tradition[en] und [origineller] prophetischer Schau«). Die Vfn. stellt fest, dass »die Originalität des Visionserlebnisses … in keiner Weise durch die zahlreichen Anspielungen auf das AT eingeschränkt« sei und sich »zudem nicht in der Originalität der Sprache ausdrücken« müsse, sondern »auch auf bewährte Vorbilder zurückgreifen« könne, »die den Adressaten der Schrift bekannt sind« (497). Abschließend resümiert der Abschnitt »Rückblick und Ausblick« das Erreichte (498: »Entwicklung einer angemessenen Kriteriologie zur Erkennung alttestamentlicher Anspielungen«) und stellt dem die Desiderate künftiger Apokalypse-Forschung gegenüber. Zwei Appendizes bieten tabellarische Auflistungen zweigliedriger Bundesformeln (zu Offb 21,3; 502 f.) und aller Anspielungen der Johannes-Offenbarung auf Ezechiel (504–507). Ein umfangreiches Literaturverzeichnis (510–529) beschließt den Band.
Der eigentliche Reichtum der Monographie, der hier lediglich an gedeutet werden konnte, erschließt sich nur dem geduldigen Leser. Durch übersichtliche Anordnung und sorgfältige Verweise ist jede Textstelle in ihren verschiedenen Bezügen leicht auffindbar. Trotz des spröden Stoffes ist die Sprache gut lesbar und anschaulich; im Umgang mit der Sekundärliteratur erweist die Vfn. Kompetenz und Ausgewogenheit des Urteils. So ist ein Standardwerk entstanden, das auf lange Zeit sowohl der Exe gese der Johannes-Apokalypse als auch dem Fragen nach den alttestamentlichen Voraussetzungen des Neuen Testaments methodische Impulse und inhaltliche Informationen vermitteln wird.