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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

269–271

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weber, Martin

Titel/Untertitel:

»Aus Tiefen rufe ich dich«. Die Theologie von Psalm 130 und ihre Rezeption in der Musik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 379 S. m. Abb., 2 CDs u. Einlegeblatt. gr.8° = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 13. Geb. € 68,00. ISBN 3-374-02054-2.

Rezensent:

Beat Weber

Diese unter Helmut Utzschneider verfasste Dissertation geht neue Wege, indem sie ein Dreifaches verbindet: 1. sichtet sie in einem hermeneutischen Teil die Erträge der Literaturwissenschaft im Blick auf die Psalmen; 2. unter Anwendung der daraus gewonnenen Methodik wird in einem exegetischen Teil Ps 130 interpretiert; 3. schließlich wird in einem musikgeschichtlichen Teil der Verwendung dieses wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Psalms nachgegangen. Das verbindende Moment bildet die Ausrichtung auf die Lesenden bzw. die Rezeption des Psalms. In dieser Kombination, die Kompetenzen in den Bereichen Literaturtheorie, Bibelexegese und Musikgeschichte vereinigt, ist dies ein beeindruckendes, aber auch ambitiöses Unterfangen.
In der Einleitung gibt der Vf. zu verstehen, dass die traditionelle historisch-kritische Exegese auf Grund ihres distanzierenden Effekts die Bedeutung der Texte für unsere Gegenwart nicht genügend in den Blick bekommt. Die Sichtung von linguistisch-literaturwissenschaftlichen Ansätzen dient daher dem Ziel, ergänzend hermeneutisch-methodische Zugangsweisen bereitzustellen, welche die poetische Textlichkeit der Psalmen und deren Leser verstärkt berücksichtigen. In Darstellung und Diskussion der diversen Verstehensmodelle und ihrer Vertreter erweist sich der Vf. als belesen und kundig. Sein besonderes Augenmerk richtet sich auf wirk- und rezeptionsästhetische Ansätze, unter denen Wolfgang Isers Lesetheorie ausführlich behandelt wird. Dessen Modell, insbesondere die Theoreme des »impliziten Lesers« und der »Leerstelle«, bildet denn auch weithin die Grundlage des Textverständnisses für die Exegese von Ps 130. Nun haben rezeptionsästhetische Interpretationen Konjunktur und sind auch schon an Psalmen erprobt worden (etwa von D. Erbele-Küster – ihr Name fehlt im Literaturverzeichnis). Dennoch ist kritisch zu fragen, ob und in wiefern Isers Theoriemodell heuristisch adäquat auf biblische Psalmentexte anwendbar ist. Zumindest als Problemanzeige sind die Spannungsfelder zwischen der an neuzeitlicher, fiktionaler Erzählliteratur gewonnen Theorie und den altorientalischen, verspoetisch gestalteten Psalmen, die zudem sowohl einen anderen »Realitätsbezug« als auch eine (andere) Symbiose von Oralität und Literarizität aufweisen, zu notieren.
Ps 130 wird nun im zweiten Hauptteil einer Interpretation unterzogen. Das wirkungsgeschichtliche Interesse manifestiert sich bereits in der parallelen Erarbeitung und Darstellung der Textgestalt (M – Q – LXX – Vg.), anhand derer der Vf. Verschiebungen des Textverständnisses im frühen Stadium der Überlieferung und Übersetzung eindrücklich aufzeigen kann. Erörtert werden an schließend Lautgestalt, Metrik, Versifikation sowie Grammatik (Satz- und Textebene), ferner Gestalt, Semantik und Pragmatik. Insgesamt ist die syntagmatische Textdimension besser erarbeitet als die paradigmatische (die Einsichten von Jakobson und Lotman werden kaum aufgenommen). Das zeigt sich etwa darin, dass im Blick auf die Makrostruktur von »Redeteilen« gesprochen (der Vf. kommt zu drei bzw. vier Einheiten: 1b–2.3–4 || 5–6 || 7–8), eine strophische Analyse aber nicht vor genommen wird. Als Fazit ergibt sich: Am Eingang des exilisch-nachexilischen Ps 130 laden die »Tiefen« (1b) als Leerstelle zu einer individuellen Füllung ein, zu einem »emotionalen Eintauchen« in die angeschlagene »Grundstimmung«. Eine zweite Leerstelle (»Verfehlungen«, 3a) nimmt die erste auf und führt zur Einbettung in einen allgemeingültigen Kontext. In V. 5 werden beide Leerstellen aufgenommen bzw. weitergeführt. V. 6 stellt den »bildhaften Höhepunkt« des Psalms dar. Die kollektivierenden Schlussverse 7 f. (sekundärer Zuwachs) fallen aus dem Rahmen, insofern sie eine Auffüllung der Leerstelle(n) darstellen.
Der exegetische Teil ist m. E. der schwächste der Arbeit. Namentlich ist eine formkritische Analyse nur rudimentär durchgeführt. Dass Ps 130 »ohne Zweifel zu den Klageliedern des einzelnen« gehört, ist keineswegs so ausgemacht, wie der Vf. glaubhaft machen will. An Stelle einer vorschnellen (von der Wirkungsgeschichte beeinflussten?) Entscheidung wären die syntaktische und formgeschichtliche Struktur genauer zu erfassen und die Interpretationsoptionen zu diskutieren, zumal es keineswegs so ist, dass bekenntnishafte und »dankende« Momente fehlen. Und wenn man die beiden Schlussverse nicht als sekundär ausscheidet, hat man zudem eine Gemeindeparänese, die sich mindestens so gut zu einer Toda wie zu einer Tephilla fügt.
Der dritte, umfangreichste Hauptteil trägt die Überschrift: »Die Rezeption von Psalm 130 in der abendländischen Musik«. Der rezeptionsorientierte Ansatz wird damit an einem bedeutsamen Bereich entfaltet. Dabei interessieren den Vf. besonders, wie die zuvor erarbeiteten Leerstellen musikalisch gefüllt und damit Sinnänderungen bzw. -vertiefungen realisiert wurden. Dazu hat er eine beeindruckende Zahl von Vertonungen (Instrumentalstücke und Chorwerke) gesammelt, gesichtet und diese über Partituren und Notationen hinaus auszugsweise durch die beigegebenen CDs auch musikalisch zugänglich gemacht.
In einem geschichtlichen Aufriss geht der Vf. dem Verhältnis von Wort und Ton an ausgewählten Kompositionsbeispielen von Ps 130,1 f. nach. Im Zeitalter der Gregorianik mit ihrem einstimmigen, unbegleiteten Gesang wird die »Musik als Dienerin des Textes« verstanden: Die Musik ist nicht eigenständiges Medium, sondern unterstützt den Sprachvollzug. Auf dem Weg vom Mittelalter zur Reformation spricht der Vf. von der »Emanzipation der Musik« insofern, als der einstimmige Gesang allmählich polyphoner wurde und die Musik einen eigenständigen Charakter bekam.
Besonderes Augenmerk richtet der Vf. auf die Reformationszeit und die von ihr herkommenden Vertonungen. Zunächst wird Martin Luthers Interpretation von Ps 130 (EG 299) mit der biblischen Textfassung verglichen. Der Vf. schreibt dazu: »Es zeigt sich, dass M. Luther die vorhandenen Leerstellen aufgreift und auf die Rechtfertigungslehre zuführt, ohne dabei die Christologie eigens zu benennen.« (205) Es folgt Heinrich Schütz, der »Musik als Predigt« versteht und die lutherische Bibel musikalisch umsetzt. Ein neuer Akzent findet sich bei Johann Sebastian Bach: »Zentrum ist nicht mehr der Text, sondern dessen Vertonung in der Interpretation des vom Komponisten erkannten Sinnzusammenhangs … Sprache und Musik werden identisch und damit austauschbar, Instrumentalmusik erklingt gesprochen.« (219 f.)
In der Klassik und Hochromantik wird die Musik zunehmend als Universalsprache empfunden und das Individuum gegenüber der (Glaubens-)Gemeinschaft mehr und mehr betont. Gefühle und Stimmungen, die der Text auslöst, werden in Musik verwandelt. Spätromantik und die Moderne schließlich führen in die »Krise der Tonalität« mit ihrer Auf- und Loslösung der Formen. Die Musik versteht sich nicht mehr als Darstellung, sondern (lediglich) als Hinweis.
Insgesamt fällt dem Vf. auf, dass bei aller Unterschiedlichkeit der musikalischen Interpretation von Ps 130 der am Eingang stehende »Ruf aus der Tiefe« das die Stimmung des ganzen Stücks tragende Fundament bildet. Die Bach-Kantate »Aus der Tiefe« (BWV 131) wird im Blick auf den Umgang mit Leer stellen in biblischen Texten eingehend analysiert. In einer gewissen Ähnlichkeit zur im exegetischen Teil aufgewiesenen Psalmgliederung gelangt Bach zu einer fünfteiligen, symmetrischen Struktur mit drei Chorsätzen am Anfang (V. 1 f.), in der Mitte (V. 5) und am Schluss (V. 7 f.), zwischen die er ein Arioso (V.3f.) bzw. eine Arie (V. 6) einschiebt.
Man ist von der Fülle und Auswertung des zusammengetragenen musikalischen Materials beeindruckt. Bei den Vergleichen zwischen dem Psalmentext und den zeitlich abständigen Vertonungen stellt sich allerdings die Frage, ob und inwiefern kirchliche Interpretationen als »Brückenköpfe« nicht verstärkt zu berücksichtigen wären. So wird etwa der wirkungsgeschichtlich bedeutende Umstand, dass Ps 130 mit anderen Psalmen zu den sieben (altkirchlichen) »Bußpsalmen« zusammengestellt wurde, nicht gewürdigt.
Im Schlusskapitel werden die wichtigsten Einsichten zusammengetragen und der rezeptions- bzw. wirkungsgeschichtliche Ansatz als theologisch bedeutsam legitimiert. Verschiedene Verzeichnisse und Register runden die Arbeit ab (hilfreich sind die Rezeptionskataloge zur Aufnahme von Ps 130 in der Musik; ein Autoren- oder Stellenregister ist nicht beigegeben).
Der Gesamtbefund bleibt für den Rezensenten ambivalent. Er ist beeindruckt von der Breite des Zugangs und der darin zum Ausdruck kommenden Kompetenz. Insbesondere mit der Darstellung und Aufarbeitung der musikalischen Wirkungsgeschichte von Ps 130 leistet der Vf. einen wichtigen und bleibenden Dienst. Andererseits wirkt die Studie als zu wenig fokussiert: Es werden zu viele Hasen gejagt. Insbesondere aber ist der Rezensent nicht zur Auffassung gelangt, dass mit Hilfe von Isers rezeptionsästhetischem Zugang viel Neues und Wesentliches für die Interpretation von Ps 130 erbracht wurde.