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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

263–265

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pannewick, Friederike [Ed.]

Titel/Untertitel:

Martyrdom in Literature. Visions of Death an Meaningful Suffering in Europe and the Middle East from Antiquity to Modernity.

Verlag:

Wiesbaden: Reichert 2004. VIII, 369 S. m. Abb. gr.8° = Literaturen im Kontext, 17. Geb. € 59,00. ISBN 3-89500-382-4.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Am Wissenschaftskolleg in Berlin ist ein ganz außerordentlicher Knoten entstanden, aus dessen die Fäden verbindender Zusammenfügung der Band entstanden ist. Dieser Knoten (Arbeitskreis Moderne und Islam) vermeidet jede Einseitigkeit und sucht nicht nach politischer Ausgewogenheit. In einem wissenschaftlichen Raum der Freiheit führt das Kolleg Wissenschaftler zusammen, die in der Region des Vorderen Orients nicht miteinander sprechen, sich austauschen, sich verstehen dürften.
Der Band, initiiert und herausgegeben von F. Pannewick, spürt mit großer Intensität einem Thema nach, das, wenn politisch korrekt und nur in aktueller Perspektive (»Menschenbomben«, »Selbstmord-Attentäter«) gelesen, mit dem Zeigefinger auf die anderen weist: auf eine Kultur der Gewalt, auf eine Religion, die das rechtfertigt, auf sozial Deklassierte und Ungebildete. Allen drei westlichen Lesarten kann das reiche Konzept von P. widersprechen. Die Ambivalenz von Leiden, Kampf und Sterben, von Lieben, Kämpfen, Töten ist immer nah beeinander und kann umschlagen.
So eröffnet P., nachdem sie in der Einleitung das Konzept entfaltet hat, mit dem Kapitel 1: Konzepte des Martyriums; Christian Szyska (29–45) fragt nach den Wurzeln in den Gründertexten – im Koran ja eher schmal –, auf die sich die Neuentdeckung des islamischen Martyriums beruft. In das spezifisch schiitische Bild einer Passionsfrömmigkeit und eines erlösenden Todes für andere führt ebenfalls P. (47–62) ein: Mit shahada kann eine unblutige, innere Auseinandersetzung angesprochen werden. Das Jahresfest mit der Repräsentation der Schlacht von Karbala ruft nach einer endlichen Umkehrung: die Aufführung ta’ziya. Sigrid Weigel zeigt die Wiederkehr des Märtyrers mit seinem Gegenstück vor, dem Tyrannen. Aber gegen die analogische Struktur von theologischen und politischen Begriffen bei Carl Schmitt plädiert sie mit Walter Benjamin gegen eine Sakralisierung der Politik.
Das zweite Kapitel hebt die Performanz hervor: Mit »Martyrium« öffnet sie eine historische Tiefe, beginnend mit dem vorchristlichen Märtyrerbegriff in der römischen Kultur: Dorothea Elm (77–89) führt ein spannendes Beispiel vor für die medialen Vorbilder im Theater, gegenüber denen sich die christlichen Märtyrer überbietend darstellen (Performanz). Peter Burschel (91–104) gibt Beispiele seiner Forschungen zum religiösen (nicht nur: Jesuiten-)Theater der frühen Neuzeit. Abgeschlossen wird das Kapitel mit dem vorzüglichen Abschnitt von Friederike Pannewick über das Bild des Märtyrers in der arabischen Dichtung (105–121): Wie das Bild des Gekreuzigten als poetisches Bild religiöse Grenzen überspringt. Möglicherweise, so meine Vermutung, hat die Metaphorisierung der Leiden des Weltkrieges durch den Nobelpreisträger Nikos Kazantzakis unter dem Titel »Christus wird noch einmal gekreuzigt« eine wichtige Rolle dabei gespielt.
Das Kapitel 3 handelt von Eros und Thanatos (125–297). Nach der gewohnt präzisen Darstellung von Anton von Hooff zum antiken Liebes-Selbstmord führt Renate Jacobi ein in die ›Udhra-Liebeslyrik‹, die sterbenden Liebenden; Susanne Enderwitz handelt von den arabischen »Troubadouren« auf der Grundlage ihrer Monographie Liebe als Beruf, weiter ebenso seine Forschungen aufnehmend Stefan Leder über die Erzählung von Udhra. Beatrice Gruendler gibt einen Einblick (mit ausführlichen Zitaten in Übersetzung) in eine theologische Unterstützung der Shahad besonders in dem Werk ›Krankheit der Herzen‹ von al-Khara’iti (lebte 851–938). Sunil Sharma schließlich beobachtet, wie der Liebes-Tod bei den Sufis rezipiert wurde. Ingrid Kasten stellt daneben den Liebestod im Tristan. Zum Abschluss dieses Kapitels spricht Angelika Neuwirth von den Metaphern, die über Blut, Tod, Auferstehung hinaus das islamische Märtyrerbild prägen, darunter besonders das Bild der Hochzeit verbunden mit einer Boden-Theologie: Vermählung mit der Erde. Noch einmal einen westlichen poetischen Text stellt Eckart Goebel vor: Rilkes Puppen.
Kapitel 4 ist der Kritik am Martyrium gewidmet (301–327) und setzt ein mit drei westlichen Dichtern: Lessing, Benjamin und Jünger, vorgestellt von Reinhart Meyer-Kalkus. Verena Klemm zeigt, wie in zwei modernen arabischen Romanen (der eine zum Bürgerkrieg im Libanon, der andere von einer Frau geschrieben, die zeigen will, dass die Werte einer palästinensichen Nation nicht auf dem Tod von immer mehr Menschen ruhen dürfen) sich das Modell des Martyriums verändert. Schließlich stellt Sonja Mejcher-Atassi den Roman eines weiteren libanesischen Autors vor (Ilyas Khuri 1981), der dem Bild des heldenhaften Märtyrers widerspricht, indem er ihn mit dem Leben einfacher Menschen konfrontiert, die ihre Kinder in dem Bürgerkrieg verlieren – Helden für einen Tag und dann vergessen. Sechs der 18 Beiträge sind auf Deutsch.
Der Band ist wichtig zur Aufklärung über ein aktuelles Thema in seinen historischen, kulturellen und religiösen Bezügen. Mit dem Vergleich des jüdisch-christlichen Ideals des stellvertretenden Todes war auch im westlichen Europa lange das Opfer doppeldeutig. Opfer kann passiv sein als das in den Tod Gehen, aber es erlaubt auch das Töten, zudem noch als religiös geforderte Tat. Ein tief verwurzeltes und immer neu verstärktes Bild vom stellvertretenden Tod für die anderen lässt sich nicht als irrationaler Rest verstehen, sondern als ein bedingungsloses Eintreten für Geschwister, Eltern, Geliebte – die Nation.
Durch die Personalisierung des Helden wird selten deutlich, dass der Sprung von der personalen Liebe zum Konstrukt Nation ganz anderer Begründungen, anderer Mittel bedarf als des Einsatzes des Lebens: des eigenen und, immer ambivalent, der Zerstörung des Lebens der Anderen. Die Religion des Islam bietet dafür eher weniger Anhalt als die Passionsfrömmigkeit in der christlichen Tradition oder die shiitische Tradition. Die Beiträge des Bandes zeigen in gründlicher Breite die Bedeutung von Liebespoesie und Theatralität, Politischer Realität und Nationalismus, die das Konzept des Märtyrertums in der westlichen wie in der orientalischen Tradition verklärt haben. Politisches Handeln bedarf anderer Formen, als der theatrale und heroische Tod als Ideal suggerieren, wie der Gekreuzigte und der Blutüberströmte im Nachhinein einen edlen Tod propagieren.