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Ausgabe:

März/2006

Spalte:

259 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brandt, Reinhard, u. Steffen Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mythos und Mythologie.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2004. 257 S. gr.8°. Geb. € 49,80. ISBN 3-05-003775-X.

Rezensent:

Theo Sundermeier

Es besteht offenkundig »ein enger Zusammenhang von sinnlicher Welterfahrung und mythischer Sprache«, schreibt K. Koch (98) in seinem breit angelegten Beitrag »Vom Mythos zum Monotheismus im alten Israel« (89–121). Man kann diesen Satz geradezu als Motto der hier vorgelegten Aufsatzsammlung ansehen. Denn der geheime Sinn aller Beiträge, von J. Assmann, »Tod, Staat, Kosmos: Dimensionen des Mythos im Alten Ägypten« (23–41), angefangen über St. Breuer, »Das Dritte Reich« (203–219), bis M. Friedrich, »Chinesische Mythen und chinesische Mythologie« (237–253), ist die Frage nach der geistigen, der sozial-politischen sowie der sinnlich-psychologischen Funktion der Mythen. Dabei liegt den Untersuchungen kein festes Schema zu Grunde, weshalb auch die Ergebnisse höchst unterschiedlich ausfallen. St. Maul, »Altorientalische Schöpfungsmythen« (44–53), zeigt z. B. höchst überzeugend, wie stark die Babylonier sich an der Vergangenheit orientieren und die Mythen dazu dienen, sie zu Archäologen werden zu lassen, da sie ihre Bauten auf den Fundamenten der Altvorderen bauen wollen und müssen, denn nur so können sie gelingen und zum Wohl des Staates beitragen. Dass sich in diesem Vorgehen das Denkmuster aller »primären Religionen« spiegelt, ist dem Vf. nicht bewusst, sollte aber bedacht werden. Die Ethik aller primären Religionen orientiert sich an der Vergangenheit: Menschen sind in ihrem ethischen Verhalten wie Ruderer, die sich mit dem Rücken nach vorn bewegen und mit dem Gesicht nach hinten in die Zukunft schauen.
Mythen sind multisemisch wie alle Symbole, ja, wie alle Kunstwerke, denn in gewissem Sinne sind sie, soweit sie uns schriftlich überliefert sind, literarische Kunstwerke. Jede Interpretation setzt neue Sinndimensionen frei. Der Umgang Freuds und seine Instrumentalisierung der antiken Mythen ist dafür ein beredtes Beispiel. Auch wenn der Dionysos-Mythos im Werk Freuds nur geringe Spuren hinterlassen hat, Renate Schlesier (»Freuds Dionysos«, 169–184) kann an den wenigen Texten überzeugend aufzeigen, welche Bedeutung er für Freud hat. Der Freuds Denken zu Grunde liegende Atheismus – Dionysos ist das Gegenbild zu Christus – lässt sich an ihm exemplifizieren.
Zu wenig wurde in der Forschung darauf geachtet, wer die Mythen erzählt. Es macht offenbar einen Unterschied, ob es Frauen sind oder Männer. R. Schefold macht auf diesen Unterschied aufmerksam: »Die mehrstimmige Botschaft: Männer- und Frauenperspektiven in indonesischen Mythen« (124–145). Die Engführung der strukturalistischen Interpretation wird da mit zu Recht überwunden. Kommen bei Levi-Strauß die Menschen praktisch nicht mehr vor, so rücken sie nun in den Vordergrund. Die Frauenperspektive ist eine andere als die der Männer, gerade auch dann, wenn es sich z. B. um Fragen der Exogamie handelt. Die von Männern und Frauen unterschiedlich erzählten gleichen Mythen machen deutlich, welchen Spielraum soziale Arrangements und die soziale Selbstverwirklichung von Frauen gegenüber der Männerwelt haben. »Wir stoßen hier auf ein Bild sozialer Gespaltenheit, das bei jedem Versuch, das Denken und Handeln der Leute zu verstehen, mitberücksichtigt werden sollte – ein deutliches Beispiel für die mögliche Diskrepanz von objektiver Funktion und subjektivem Sinn« (139 f.).
Die Entmythologisierungsdebatte hatte in der Theologie zu einer regen Mythendiskussion geführt. Das lange vorherrschende Urteil, Mythen seien vorrational und ihre Weltbewältigung sei damit überholt, ist längst überholt und spielt auch zu Recht in diesem höchst lesenswerten Band keine Rolle mehr. Jeder Beitrag macht im Gegenteil deutlich, welche auch heute noch relevanten Aspekte durch die Mytheninterpretation ans Licht gebracht werden können. Mythen sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses und bestimmen auf höchst unterschiedliche Weise noch immer unser Denken und Handeln. Wir müssen uns mit ihnen beschäftigen und uns mit ihnen auseinander setzen.
Ein Aspekt allerdings wird nicht bedacht, die Frage nämlich, ob es auch einen historischen Hintergrund geben kann. Diese Möglichkeit besteht nicht für die »ursprünglichen Mythen«, wie sie hier genannt werden, nämlich die Schöpfungsmythen. Was aber ist mit den sekundären, den literarischen Mythen, wie sie zuhauf bei Homer zu finden sind, wie z. B. dem Amazonenstaat? Während der Lektüre dieser Textsammlung wurde in 3Sat über die Entdeckung und Ausgrabung eines vollständig erhaltenen Grabes nördlich vom Kaspischen Meer berichtet, in dem eine junge Frau begraben war. Die Kleidung und Insignien der jungen, groß gewachsenen Reiterin entsprachen bis ins Detail den Bildern der Amazonen, wie sie auf den griechischen Vasen zu finden sind. Nicht genug damit. Nahe der chinesischen Grenze, in einer nichtmongolischen kleinen Enklave, entdeckte man ein hoch gewachsenes junges Mädchen mit blonden Haaren. Gelegentlich würden hier Mädchen mit blonden Haaren geboren, hieß es. Die Entschlüsselung des genetischen Materials dieses Mädchens ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit den Genen der vor über 2000 Jahren verstorbenen jungen Kriegerin! Damit ist zwar nicht die Existenz eines Amazonenstaates bewiesen, dass es aber blonde kriegerische Reiterinnen gegeben hat, die nicht in den Bereich des ursprünglichen Mythos und der Männerphantasien gehören, kann nicht mehr bezweifelt werden. Sekundäre Mythen sind offenbar Speicher auch historischer Reminiszenzen. Das sollte in der Mythenforschung zukünftig stärker bedacht werden.