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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1362 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rauchfleisch, Udo

Titel/Untertitel:

Wer sorgt für die Seele? Grenzgänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge.

Verlag:

Stuttgart: Klett-Cotta 2004. 229 S. 8° = Konzepte der Humanwissenschaften. Kart. € 24,00. ISBN 3-608-94099-5.

Rezensent:

Cla Reto Famos

Auch wenn mancherorts das Zeitalter der Therapeutischen Seelsorge schon wieder ausgeläutet worden ist, kann das Verhältnis zwischen Seelsorge und Psychotherapie nach wie vor nicht als vollständig geklärt gelten. Es ist deshalb von großem Interesse, wenn sich mit R. ein Psychoanalytiker und Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel zu diesem Thema äußert. R. wendet sich explizit an Therapeuten – das Buch ist aber gerade deshalb auch für die Theologie interessant – und konstatiert ein eigentliches religiöses Tabu in der Psychotherapie: Religiöse Themen kommen in den meisten psychotherapeutischen Schulen weder in der Ausbildung noch in der Supervision und Selbsterfahrung zur Sprache und bleiben dadurch unbearbeitet. Auf der anderen Seite gibt es auch ein psychotherapeutisches Tabu in vielen religiösen Kreisen.
In der Verhältnisbestimmung von Psychotherapie und Seelsorge plädiert R. für eine kategoriale Unterscheidung und stellt sich damit eindeutig auf die Seite der kerygmatischen Theologie: Während die therapeutische Tätigkeit vom Paradigma der Spiegelung und der persönlichen Zurückhaltung ausgeht, sieht R. das Proprium der Seelsorge im Verkündigungsauftrag, weshalb Seelsorge »nicht nur Lebens-, sondern immer auch Glaubenshilfe« (40) ist. Explizit bezieht sich R. auf Thurneysen und stellt »die Frage nach Gott und seinem versöhnenden Handeln« ins Zentrum des Seelsorgegesprächs. Es wäre deshalb »eine unheilvolle Verkürzung der Seelsorge, wenn man sie in der Psychotherapie aufgehen ließe« (43), die Seelsorge wäre ihres Kerns beraubt.
R. beschreibt natürlich auch den Missbrauch des Therapeutischen in den Kirchen – wobei er sich stark auf evangelikal-freikirchliche und katholisch-konservative Kreise konzentriert. Zugleich werden die therapeutischen Aspekte des Religiösen betont. R. macht diese an der stabilisierenden Funktion des religiösen Glaubens, an der Bedeutung der Gemeinschaft und an der Herstellung eines überindividuellen Sinnbezugs deutlich.
Der größte Teil des Buches steht unter dem Titel: Was können Psychologie und Psychotherapie der Kirche bieten? Schon die Fragestellung deutet an, dass sich R. vor allem auf die katholische Kirche (und allenfalls auf konservativ-freikirchliche Kreise) ausrichtet. Dies zeigt sich auch bei der Themenwahl, in welcher Fragen der Sexualität stark gewichtet sind. R. ringt mit einer rigiden kirchlichen Sexualmoral und versucht, diese durch die Perspektive der Psychologie zu einer Öffnung zu führen. Theologisch liberale Kirchen sind nur am Rande im Blick. Abgesehen von diesem Vorbehalt fasst R. die Beiträge von Psychologie und Psychotherapie sehr gut verständlich und instruktiv zusammen.
R. plädiert für den gegenseitigen Respekt und ortet große Chancen in der intensiveren Zusammenarbeit. Psychotherapeuten können mehr über die existentiellen Nöte und die religiösen Ressourcen ihrer Patienten erfahren. Seelsorger werden durch den intensiveren Austausch mit der Psychotherapie befähigt, besser auf die seelischen Bedürfnisse der Menschen einzugehen und bei Bedarf eine Weiterverweisung einzuleiten. So können sich beide Bereiche fruchtbar ergänzen. Wo das in der evangelischen Kirche nicht schon längst geschieht, ist dieses Ziel deutlich anzustreben. Das Buch von R. zeugt von einem neuen Interesse der Psychotherapie an religiösen Fragen. Es ist ein Gesprächsangebot, auf das von der Theologie her unbedingt eingegangen werden sollte.