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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1350–1352

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schlieben, Barbara, Schneider, Olaf, u. Kerstin Schulmeyer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft.

Verlag:

Göttingen: Wallstein 2004. 400 S. m. Abb. 8°. Kart. € 40,00. ISBN 3-89244-727-6.

Rezensent:

Alf Christophersen

In Literatur-, Politik- und Geschichtswissenschaft, aber auch in der Soziologie ist seit über zehn Jahren ein verstärktes Interesse an Stefan George und seinem Umfeld erkennbar. Als dominant erweist sich dabei das Bemühen, die unterschiedlichen Beziehungsgeflechte innerhalb des Kreises aufzuzeigen. Nahezu durchgängig bleibt allerdings die werkbezogene Einbindung unbefriedigend, obgleich in der Regel weit reichende Gesamturteile gefällt werden, etwa zum »Antimodernismus« (Stefan Breuer) oder »ästhetischen Katholizismus« (Wolfgang Braun gart) der Georgeaner. Innerhalb des Kreises war der Status der ›Wissenschaft‹ zutiefst umstritten. »Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft«, hatte George apodiktisch betont – gerade mit Blick auf den Germanisten Friedrich Gundolf, den mit Abstand herausragendsten Wissenschaftler des George-Umfeldes. Im vorliegenden Sammelband werden jetzt Erträge zweier Tagungen aus dem Jahr 2002 zusammengeführt: einerseits die Ergebnisse der von Johannes Fried und Ulrich Raulff auf dem »Deutschen Historikertag« in Halle geleiteten Sektion »Stefan George und die Geschichtswissenschaft«, andererseits die Beiträge zu einem von den Herausgebern in Frankfurt am Main veranstalteten Symposion »Mittelalterbilder im George-Kreis«. In drei Rubriken – »Tradition und Diskussion«, »Modellierung« und »Rezeption« – wird der sperrige Gegenstand eher notdürftig strukturiert.
Unter Rückgriff auf die Fülle eigener vorhergehender Veröffentlichungen zum Thema befasst sich zunächst Otto Gerhard Oexle mit »Georg Simmels Philosophie der Geschichte, der Gesellschaft und der Kultur«. Er verfolgt dabei nicht nur das Ziel einer immanenten Rekonstruktion Simmelscher Theoriebildung, sondern will eine »anschlußfähige Problemkontinuität« (47) erkennen. Die in der klassischen Moderne geführten Paradigmenkämpfe seien noch nicht erledigt. Dies gelte unter der Leitdifferenz von »Partikularität« und »Ganzheit« insbesondere für die Auseinandersetzungen um »die Anerkennung der Pluralität von Lebensformen und Weltbildern, der Ausdifferenzierung und Autonomisierung von Teilbereichen, die man reflektieren, aber nicht überwinden« (48) könne. Vor allem in der spannungsreichen Gegenüberstellung von Modernismus und Antimodernismus sieht Oexle die auch gegenwärtig noch entscheidende Problemstellung. Sein Anspruch auf aktuelle Relevanz findet eine Entsprechung in der von Oliver Ramonat vorgenommenen Zuspitzung des Gundolfschen Wissenschaftsbegriffs; denn für ihn gingen »Zeitkritik und brennendes Interesse an der Gegenwart Hand in Hand« (87). Auch Ernst Kantorowicz verlangte einen Darstellungsstil, der »in die Nation« (89) hineinwirken sollte. Eine illustrierende Vertiefung dieser Politisierung liefert Ulrich Raulff in seiner Aufnahme des Gedankens vom »geheimen Deutschland« (»›In unterirdischer Verborgenheit‹. Das geheime Deutschland – Mythogenese und Myzel«), in dem er »die Hoffnung auf ein Erwachen zu einer anderen Geschichte« (114) schlummern sieht.
Nicht nur im von George angeleiteten Rückgriff auf die griechische und römische Antike, sondern vornehmlich auch im Eingehen auf Tiefendimensionen des Mittelalters lassen sich Versatzstücke eines spezifischen Geschichtsbildes des George-Kreises finden. Thematisiert werden »Mittelalter und Humanismus – Eine Epochengrenze« (Ulrich Muhlack), »›Italisches‹ bei Ernst Kantorowicz« (Gundula Grebner), »Das Mittelalter in der Dichtung Georges« (Ute Oelmann), »Die geschichtliche ›Schau‹ Wolframs von den Steinen unter dem Zeichen Stefan Georges« (Wolfgang Christian Schneider), »Melchior Lechter und die Erneuerung der Kunst aus dem Geist des Mittelalters« (Sebastian Schütze), »Edgar Salins Deutung der ›Civitas Dei‹« (Bertram Schefold).
Die zweite Beitragsstaffel verschiebt die Interpretationsgrenze weit über das Mittelalter hinaus und verfolgt Protagonisten und Randfiguren des Kreises durch die Weimarer Republik bis in das amerikanische Exil. So porträtiert Eckhart Grünewald Hubertus Prinz zu Löwenstein als »Organisator der ›Deutschen Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil‹« oder Stephan Schlak verleiht der Persönlichkeit des passionierten Motorradfahrers Percy Gothein als »Fall für die noch nicht geschriebene Kulturgeschichte des George-Kreises« (335) bewegte Konturen. Johannes Fried befasst sich in »Zwischen ›Geheimem Deutschland‹ und ›geheimer Akademie der Arbeit‹« eingehend und über den bisherigen Forschungsstand hinaus mit dem Nationalökonomen Arthur Salz. Salz’ 1920/21 mit dem kreisnahen Historiker Erich von Kahler geführten Disput über Max Webers »Wissenschaft als Beruf« sieht Fried vom Impetus getragen, eine Wissenschaft zu entwerfen, die Weber mit George versöhnen, »die menschenbildnerische Botschaft des Dichters in die Sozialwissenschaft« (271) integrieren sollte, um schließlich in ›politischer Ökonomie‹ zu münden. Während Klaus Reicherts Beitrag »Gundolfs Geschichtsschreibung als Lebenswissenschaft« fragmentarisch bleibt und unausgearbeitet wirkt, bildet Michael Thimanns »Mythische Gestalt – magischer Name – historische Person. Friedrich Gundolfs Bibliothek zum Nachleben Julius Caesars und die Traditionsforschung« einen Höhepunkt des Bandes und verweist das Lesepublikum auf die einschlägige Monographie des Verfassers zum Thema (»Caesars Schatten. Die Bibliothek von Friedrich Gundolf. Rekonstruktion und Wissenschaftsgeschichte«, Heidelberg 2003). Innovativ ist ebenfalls Ulrich Raulffs Einblick in das Verhältnis der »amerikanischen Freunde« Erich von Kahler, Ernst Kantorowicz und Ernst Morwitz. Verfolgt wird die Frage einer Übersetzung Georges oder dessen, was für sein Erbe gehalten wurde, »in die Sprache des Exils und in ein neues intellektuelles Umfeld« (365). Raulff kennzeichnet Kontinuitäten und Brüche, wobei er besonders Kantorowicz hervorhebt, der die Geschichte einer »Achsendrehung« unterwarf: »Statt den Dichter-Staat am Ende der Geschichte zu feiern, untersucht er das Maß an Dichtung, an Fiktion, das in die Ursprünge des modernen, weltlichen Staates eingegangen ist.« (377)
Der kritische Durchgang durch die Höhen und Tiefen des Sammelbandes hinterlässt bei durchaus vorhandenem Anregungspotential den irritierenden Eindruck, dass hier über »Geschichtsbilder« im Wesentlichen nur aus einer deskriptiven Perspektive berichtet wird. Weiterführende Theorieaspekte fehlen und können auch durch den gegenwartsbezogenen Versuch einer Fortschrittskritik nicht aufgehoben werden. »Denn eines wissen wir ganz sicher«, betont Olaf B. Rader in seiner Diskussion der »politischen, ästhetischen und rezeptionsgeschichtlichen Körper« Kantorowicz’: Einen »in die Zukunft unendlich verlängerbaren Prozeß des Fortschritts« gibt es nicht – dies sei evident und werde »[i]gnoranten Fortschrittsapologeten … nun auch selbst bei einem Semper-Opernbesuch an ihren nassen Füßen klar« (363). Ob gegenwärtige George-Faszination zu ihrer Erklärung eines derartigen Bedrohungsszenarios bedarf? Dennoch präsentieren die Aufsätze ein breites Panorama unterschiedlichster Strömungen und Charaktere des Kreises. Eindrücklich wird die Präsenz der Georgeaner in den intellektuellen Debatten des ausgehenden Kaiserreiches und der Weimarer Republik vor Augen geführt. Die näheren Verbindungen zur Theologie werden leider nicht gezogen. Gerade unter der Perspektive »Wege zur Wissenschaft« ist hier etwa an die Leistung Ernst Troeltschs zu erinnern, der 1921 mit seiner essayartigen Rezension »Die Revolution in der Wissenschaft« die Akzeptanz insbesondere Friedrich Gundolfs innerhalb der etablierten Wissenschaftslandschaft nachdrücklich förderte (vgl. 263).
Ihr Band stelle, kommentieren die Herausgeber, »ein Kompendium zu Geschichtsbildern, Wissenschaft und ästhetischer Vermittlung im George-Kreis« (11) dar. Allein der Gedanke da ran, in ferner Zeit Gegenstand eines ›Kompendiums‹ werden zu können, hätte sicherlich bei George selbst zu massiven Abwehrreaktionen geführt, aber mit einem manifesten Kontrollverlust über die eigene Rezeption müssen kreisbildende ›Meister‹, auch wenn sie den Anspruch erheben, in herausragender Intimität mit der Ewigkeit zu stehen, wohl immer wieder rechnen.