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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1348–1350

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sala, Giovanni B.

Titel/Untertitel:

Kants »Kritik der praktischen Vernunft«. Ein Kommentar.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. 379 S. gr.8°. Geb. € 49,90. ISBN 3-534-15741-9.

Rezensent:

Wolfgang M. Schröder

Kants praktische Philosophie als Moraltheorie eines uneingeschränkt Guten und eines obersten, kategorischen Imperativs entfaltet sich in mehreren Etappen. Eine wesentliche davon, bei welcher der Akzent auf letzterem Gesichtspunkt liegt, ist die Kritik der praktischen Vernunft (= KpV) (1788).
Dieses zweite kritische Hauptwerk Kants ist themenreicher als die vorangehende Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten (1785), aber noch weniger zum »Moralsystem« ausbuchstabiert als die nachfolgende Metaphysik der Sitten (1797). Der Fokus der KpV liegt auf der Klärung der Vernunftbedingungen einer Moral, die drei Kriterien erfüllt: Sie muss 1. auf den Erweis der Wirklichkeit von Freiheit zu gründen sein, 2. da bei »Kausalität durch Freiheit« stimmig normieren sowie 3. insgesamt Anspruch auf praktische Wahrheit machen können.
Geht die Grundlegung vom Begriff des uneingeschränkt Guten aus, um über den Begriff der moralischen Pflicht zum Begriff und Kriterium solcher Verbindlichkeit, zum kategorischen Imperativ, zu gelangen, verfährt die KpV recht anders. Sie thematisiert die Moral nicht als die Ausrichtung auf das schlechthin Gute, sondern als die Sphäre des schlechthin allgemeinen, streng objektiven praktischen Gesetzes. Dieses kann für Kant nur in der reinen praktischen Vernunft entspringen, die, ohne vom Erkennen abgeleitet zu sein, praktische Bestimmungsgründe hervorbringt. Und sie kann nicht anders im Handeln wirksam werden als durch einen reinen Willen, der mit reiner praktischer Vernunft zusammenfällt.
Vor diesem Hintergrund unternimmt Kant in der KpV eine Neubegründung der Moral in Gestalt einer kritischen Prüfung der reinen praktischen Vernunft. Diese soll klären, wie reine Vernunft »für sich allein praktisch« sein kann, dergestalt, dass sie als »reines«, von externen Vorgaben unabhängiges Wollen zur Handlungsleitung fähig wird.
Kants Fazit in der KpV lautet zunächst, dass statt einer Materie nur eine reine Form als Bestimmungsgrund eines reinen Wollens in Frage kommt. Wenn aber, wie es scheint, eine solche reine Form für jedes willensfähige (also im praktischen Sinn vernünftige) Individuum gleich ist, kann dieses Gleichheitsmoment in Form des allgemeinen Gesetzes deskriptiv als Erkennungszeichen, normativ als adäquater Bestimmungsgrund des reinen Wollens gelten.
Der renommierte Münchener Kant-Spezialist und Lonergan-Schüler Sala hält den Kantischen Formalismus für systematisch verquer: »Weil eine Handlung ihrem Wesen nach (d. h. von ihrem Objekt her, das sie moralisch qualifiziert) gut ist, deshalb kann sie allgemein werden, d. h. Inhalt eines moralischen Gesetzes. Der umgekehrte Weg – weil die Handlung die Form der Allgemeinheit aufweist, ist sie gut – ist nicht begehbar. Denn es fehlt ihm ein objektives Kriterium, um herauszufinden, welche Handlungsweisen diese Form annehmen können und welche nicht. … Der Formalismus ist nicht imstande, eine normative Ethik oder Pflichtenethik zu begründen.« (104) Hinzu kommt, dass aus Sicht des Vf.s Kant durch sein »Beiseiteschieben der transzendenten Dimension der Ethik« in Schwierigkeiten gerät »hinsichtlich der Absolutheit der moralischen Verpflichtung und der Realisierbarkeit ihres letzten Zielobjektes« (85, Anm. 78). Diese Thesen, vom Vf. in vielfachen Varianten wiederholt, prägen den Tenor seines KpV-Kommentars. Und dies so durchgängig, dass man hier redlicherweise von einer Kant-Kritik in Form eines Kant-Kommentars reden muss.
Äußerlich hat der Vf. den Kommentaraufbau klar strukturiert und reich untergliedert. Eingerahmt von einer brillanten werk- und ideengeschichtlichen Einführung in den »Werdegang der Ethik Kants« (19–56) und einem sehr knappen, sehr selektiven Überblick über die Wirkungsgeschichte der KpV (352– 362) bietet der Hauptteil eine die Einteilung der KpV durch gehende, indes durch über 20 »Exkurse« allzu häufig unterbrochene »textnahe Erläuterung eines Absatzes nach dem anderen« (12). Mit diesem Verfahren will der Vf. die »Kluft zwischen einer Gesamtdarstellung der Ethik Kants und dem Text des Philosophen« (11) so schließen, dass eine »gesamte Erläuterung der KpV für Anfänger« entsteht, die »auch für diejenigen von Nutzen sein kann, die ein bestimmtes Thema intensiv behandeln wollen« (13). Sprachstil, Reflexionstiefe und umfassende Kant-Expertise dieses Kommentars erweisen ihn indes doch eher als Lektüre für Fortgeschrittene und Spezialisten.
Die »Grundthese des Kommentars …, daß der Kern der KpV vom Transzendentalidealismus unabhängig ist« (13), scheint, weil ihre Berechtigung evident ist, weniger spannend als die mitunter fast sophistische Systematik, mit der der Vf. alle sensiblen Theoriestücke der KpV auf ihre begrifflich-systematische Grundstruktur und ihre (eventuellen) Grundwidersprüche hin durchsichtig macht. Höhepunkte sind hierbei die Erläuterungen und Exkurse des Vf.s zu den Kapiteln der »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« (bes. 236 ff.245 ff.269 ff.282 ff. 328ff.336 ff.). Reich belehrt wird auch, wen die theologischen Implikationen der Kantischen Postulatenlehre umtreiben.
Der Vf. hebt den philosophischen Anspruch und die systematische Bedeutung der KpV klar gegen das entsprechende Profil der ersten Vernunftkritik Kants ab. Er betont, die KpV stehe nicht für eine »kopernikanische Wende« in der praktischen Philosophie; sie bringe keine völlige »Umkehrung der bis dahin allgemein vertretenen Lehre« (19). Sie markiere hier bloß eine »tiefgreifende Zäsur« (ebd.). Diese scheinbar schwache Differenzierung hat durchaus eine Pointe: Eine denkerische »Wende« ist der (womöglich irreversible) Abbruch, eine »Zäsur« indes nur eine (womöglich reversible) Unterbrechung einer Theorietradition – deren Grundeinsichten eventuell erweiterungsbedürftig, im Kern aber nicht wirklich »überholbar« sind. Der Vf. scheint solche Elemente einer moralischen philosophia perennis in der aristotelisch-thomistischen Tradition sowie in der modernen materialen Wertethik zu sehen. Jedenfalls kommt er auf deren inhaltliche Grundeinsichten und begriffliche Differenzierungen immer wieder zurück, namentlich in den Exkursen. Da durch gewinnt sein KpV-Kommentar eine zusätzliche Dimension: Er wird »aus Anlass Kants« auch zur re-introductio in Grundbegriffe scholastischer Ethik und deren moderne Entsprechungen und Fortentwicklungen.
Als Fazit ist ein differenziertes Votum festzuhalten. Der Kommentar des Vf.s stellt kraft seiner oft brillanten ideen-, werk- und theoriegeschichtlichen Kontextualisierungen der KpV eine sachlich nötige, inhaltlich überaus gewichtige, formal aber nicht unhinterfragbare Ergänzung zu bereits existierenden Erläuterungsschriften dar. Seine anspruchsvolle Theoriesprache mag manchem »Kant-Anfänger« Mühe machen. Unabhängig davon aber empfiehlt sich der Kommentar als kritisch orientierender Begleiter für ein gründliches Studium der Kantischen Moralphilosophie. Unter den deutschen Neuerscheinungen des Kant-Jahres dürfte er zu den bedeutendsten gehören.