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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1341 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Scheuing, Hans-Werner

Titel/Untertitel:

»… als Menschenleben gegen Sachwerte gewogen wurden«. Die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof und ihrer Bewohner 1933–1945. 2., durchges. u. erw. Aufl.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004. XVII, 543 S. m. zahlr. Abb. gr.8°. Geb. € 25,00. ISBN 3-8253-1607-6.

Rezensent:

Reinhard Aulich

»Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie« (Schiller-Zitat auf einer Tafel am Gedenkstein des Schwarzacher Hofes).
Das Schicksal Behinderter während des Dritten Reiches ans Licht gebracht zu haben, ist das Verdienst dieses Buches. Es liest sich schwer und leicht gleichermaßen. Schwer, weil der Inhalt bedrückend ist; leicht, weil es klar und verständlich, fasslich und einprägsam geschrieben wurde. Dazu trägt entscheidend bei, dass Sch. wann immer möglich die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt. Was seine Darlegungen so wertvoll macht, ist die konsequente Perspektive von unten, fernab der gebräuchlichen Institutionengeschichte. Erstmals in der Forschung wird aufgezeigt, wie das Alltagsleben von Schwer- und Schwerstbehinderten einer Heil- und Pflegeanstalt in den späten 20er, 30er Jahren und der ersten Hälfte der 40er Jahre des letzten Jh.s ausgesehen hat. Es zeigt sich bei allem, dass die Euthanasie an Behinderten sozusagen in der Luft lag.
Bis Kriegsbeginn war der staatliche Eingriff in der Anstalt Mosbach vergleichsweise gering. Das änderte sich nun schlagartig: Die Versorgungsmöglichkeiten der Heimbewohner wurden empfindlich eingeengt. Im »Rahmen der Durchführung planwirtschaftlicher Maßnahmen« begannen die Todestransporte ins Vernichtungslager Grafeneck auf der Schwäbischen Alb bei Münsingen, wo allein 1940 knapp 10000 Menschen durch Giftgas getötet wurden – so fast die Hälfte der Heimbewohner der Anstalt Mosbach mit allen jüdischen Erwachsenen.
Der große Wert von Sch.s Buch besteht darin, neben der äußeren auch die innere Geschichte aufgearbeitet zu haben. Es wird sichtbar, dass die Anstalt in Mosbach als »letztes Auffangbecken für die größten Problemfälle der NS-Gesellschaft« betrachtet wurde. Mit dem regierungsamtlichen Sammlungsverbot von 1934, das die Anstalt auf die Zulieferungen von Winterhilfswerk und Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt an gewiesen sein ließ, erhöhte sich die Abhängigkeit vom NS-Staat. Und dieser beurteilte, ob »an dem Weiterbestehen nach Grundsätzen einer planwirtschaftlichen Gestaltung der freien Wohlfahrtspflege ein öffentliches Interesse besteht«, drehte sukzessiv den Geldhahn bzw. die Lebensmittelzuweisungen ab und hungerte die kirchlichen Einrichtungen aus.
Bei den Todestransporten 1940 traf es 218 Heimbewohner von Mosbach und Schwarzach, 1944/45 deren 49. Die Anstaltsleiter im deutschen Südwesten gingen davon aus, dass die Anfragen des Badischen Innenministeriums dazu dienten, kriegstaugliche Heimbewohner zu erfassen, und um ihnen Schanz arbeiten am Westwall zu ersparen, gaben sie von ihren Zöglingen ein möglichst unbrauchbares Bild, womit sie unfreiwillig der Vernichtungsaktion in die Hände spielten. Das 9. und das 10. Kapitel befassen sich mit den Vorgängen des Jahres 1944. Zunächst mit der Zwangsvermietung und Räumung des Schwarzacher Hofes. Da Hitler höchstpersönlich die Versorgung der Rüstungsarbeiter bei Daimler-Benz als kriegsentscheidend ansah, wurden viele Heimbewohner »verlegt«, und zwar in die staatlichen Anstalten Eichberg und Uchtspringe bei Stendal, wo die meisten von ihnen an Entkräftung, Morphium oder sonstiger letalen Medikation umkamen.
Es ist Sch. zu danken, dass er die Nerven und die Ausdauer hatte, ein solch deprimierendes Kapitel deutscher Kulturgeschichte engagiert und gründlich aufzuarbeiten. Die nationalsozialistische Ideologie war ein schleichendes Gift, das viele volkstümliche Vorbehalte enthielt, die keineswegs auf dem Misthaufen vergangener Zeiten gelandet sind. Dazu findet Sch. manch bestimmtes Wort, ohne anmaßend oder überheblich zu sein.