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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1338 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Beck, Wolfhart

Titel/Untertitel:

Westfälische Protestanten auf dem Weg in die Moderne. Die evangelischen Gemeinden des Kirchenkreises Lübbecke zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2002. XIV, 456 S. m. Tab. u. 1 Kt. gr.8° = Forschungen zur Regionalgeschichte, 42. Geb. € 46,40. ISBN 3-506-79615-1.

Rezensent:

Helmut Begemann

Diese Dissertation ist eine aufschlussreiche Fallstudie zur regionalen Kirchlichen Zeitgeschichte, die Veränderungen und Wandlungen der Kirche in sozial- und kulturgeschichtlichem Kontext darstellt. Beck hat dafür den Minden-Ravensbergischen Kirchenkreis Lübbecke ausgewählt. Er betritt damit Neuland. Es gibt zwar eine Fülle von Darstellungen zur allgemeinen Kirchengeschichte oder zur Geschichte einer Kirchengemeinde. Diese Arbeit aber wendet sich einer regionalen Größe zu, einem Kirchenkreis als einem weitgehend selbständigen Lebensraum. Das geschieht in dieser Weise erstmalig. Ein überschaubarer Lebensraum wie ein Kirchenkreis bietet den Vorteil, die Verschränkungen von Kirche und Gesellschaft in ihrer lebensweltlichen Konkretisierung und als Faktoren sozialer Realität aufzuspüren und zu beleuchten. Besonders bemerkenswert ist der Zeitraum, den die Untersuchung in den Blick nimmt: vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Es ist ein Epochen übergreifender Zeitraum, ein Zeitraum, in dem sich weit reichende politische und gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Veränderungen ereignet haben. Wie haben sich diese Veränderungen auf Gestalt und Leben der Kirche ausgewirkt?
B. hat sich den ländlichen Kirchenkreis Lübbecke ausgesucht, weil ihm dieser bis weit ins 20. Jh. hinein agrarisch geprägte Bezirk besonders geeignet erschien, »die Wechselbeziehung von traditionaler sozioökonomischer Struktur und Kirchlichkeit« vor dem Hintergrund langfristiger Wandlungsprozesse aufzuzeigen. Auch in konfessioneller und in kirchengeschichtlicher Hinsicht bot sich dieser Kirchenkreis an. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges hatte er eine einheitlich evangelisch-lutherische Prägung, eine spezifische Form des insgesamt konfessionell kirchenpolitisch und theologisch weit gefächerten deutschen Protestantismus. Nicht nur der Katholizismus, auch der Protestantismus hat bestimmte kirchliche Milieustrukturen hervorgebracht. Diese Studie leistet einen Beitrag zum Verständnis und zur Bedeutung eines spezifisch protestantischen Milieus als Träger kollektiver Sinndeutung von Wirklichkeit. Nicht zuletzt hat die vergleichsweise günstige Archivsituation und Quellenlage, besonders im Archiv des Kirchenkreises, B. dazu bewogen, dieses Untersuchungsgebiet auszuwählen.
Kontinuitäten und Wandlungen der Kirche in den vier unterschiedlichen Epochen, die B. untersucht und auch vergleicht, sind durch Ambivalenzen bestimmt, die er u. a. mit Dechristianisierung und Rechristianisierung, mit Entkirchlichung und Verkirchlichung umschreibt. Zunächst Kaiserreich und 1. Weltkrieg. Die Minden-Ravensbergische Erweckungsbewegung hat im 19. Jh. vor allem den südlichen Bereich des Kirchenkreises er fasst und ein »neupietistisch-orthodoxes Gemeindemilieu« hervorgebracht. Die Dreiheit »Thron, Nation, Altar« stellte ein Bündnis dar, das seine Legitimation in der Religion fand. »Mit Gott für König und Vaterland« ging man in den 1. Weltkrieg. Die Weimarer Zeit jedoch stellte die Kirche vor ganz neue Herausforderungen. Das Ende der Staatskirche, Demokratie und Pluralismus lösten das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung aus. Die Kirche musste nun ihren eigenen Weg finden als »staatsfreie Kirche«. Aber dann kam die Nazizeit, die Zeit der Scheidung und Entscheidung. Es ist hochinteressant und spannend nachzulesen, wie Pfarrer, Presbyter, Gemeinden nach anfänglicher Begeisterung im Jahre 1933 dann doch in großer Mehrheit und Entschlossenheit sich gegen alle Versuche der NSDAP und der Deutschen Christen, die Kirche mit dem nationalsozialistischen Staat gleichzuschalten, wehrten, was sich u. a. an der Verweigerung des Hitlergrußes festmachen lässt. Die Untersuchung zeigt eindrücklich, wie in dieser bewegenden Zeit dem Pfarrer entscheidende Vorbildfunktion zukam. Leider wird die Judenfrage nicht angesprochen. Der Neuanfang nach 1945 war einerseits bestimmt durch Festhalten an den theologischen Erkenntnissen und kirchlichen Erfahrungen des Kirchenkampfes: Rückbesinnung auf Bibel und Bekenntnis als die tragenden Grundlagen, Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, die sich um Wort und Sakrament versammeln. Andererseits galt es, neue Wege zu gehen, um Kirche in der Gesellschaft glaubwürdig und überzeugend darzustellen. »Aufbruch in die Welt« hieß das leitende Stichwort. Dazu kam die ökumenische Öffnung, die im Kirchenkreis schon bald nach dem 2. Vatikanum zu gemeinsamen Veranstaltungen und Gottesdiensten mit der katholischen Kirche führte. Aber es gab auch Gegenkräfte, z. B. in der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium«, die Bibel und Bekenntnis als alleinige Grundlagen allen kirchlichen Handelns gefährdet sah.
Die Gründung der Vertriebenen- und Flüchtlingsstadt Espelkamp war in bevölkerungspolitischer, in wirtschaftlicher, aber auch in kirchlicher und frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht, eine Initialzündung für den Kirchenkreis, was die Untersuchung in erfreulicher Weise herausarbeitet.
B. hat für seine Arbeit umfangreiches Quellenstudium betrieben (allerdings Predigten von Pfarrern kaum herangezogen) und die Quellen sorgfältig und detailliert ausgewertet. So ist ein Buch entstanden, das einen lebendigen Einblick in die wechselvolle Geschichte der Gemeinden eines Kirchenkreises gibt. Nach der Lektüre stellt man verwundert fest: Man kann die Wirkungsgeschichte des Christentums beschreiben, aber dass die Kirche immer noch da ist und lebt, ist mit historischen, soziologischen, kulturellen und sozioökonomischen Kategorien nicht zu erklären.