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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1335–1337

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Starr, James, and Troels Engberg-Pedersen [Eds.]

Titel/Untertitel:

Early Chris tian Paraenesis in Context.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. VIII, 616 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 125. Lw. € 128,00. ISBN 3-11-018130-4.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Der umfangreiche Sammelband enthält eine Einführung der Herausgeber, 17 Beiträge, eine ausführliche Bibliographie von 44 Seiten und Indizes (hilfreich der Index of Subjects).
Das Buch ist das Ergebnis zweier exegetischer Konferenzen in Lund (2000) und Oslo (2001), auf denen eine Gruppe skandinavischer, nordamerikanischer und deutscher Neutestamentler und Neutestamentlerinnen das Thema der frühchristlichen Paränese in ihrem jüdischen und griechisch-römischen Umfeld erörterte. Die leitenden Fragen der Konferenzen und der Beiträge des Sammelbandes formulieren die Herausgeber in der Einleitung: neben den Definitionsfragen (Teil I) gilt das Interesse der Exegeten zunächst den griechisch-römischen und jüdischen paränetischen Konzepten und Texten (Teil II), dann dem neutestamentlichen Gebrauch (Teil III), schließlich der nachneutestamentlichen Zeit (Teil IV). Die Rezensentin kann nur einige wichtige Aspekte von Teil I ansprechen. Die Herausgeber stellen selbst die Beiträge zu Beginn vor, worauf ich hier der Kürze halber verweise (4–10).

Die Konferenz in Lund führte zu einer detaillierten heuristischen Beschreibung des Phänomens: »Paraenesis is 1. a heuristic, modern term used to describe 2. a text or communication in which 3. a person of authority, A, addresses 4. a party, B, who shares A’s basic convictions about the nature of reality and God, 5. in order to influence B’s behavior in the practical (›ethical‹) issues of everyday life, and possibly 6. in order to strengthen B’s commitment to the shared ideological convictions …, 7. where A may incorporate traditional ethical material, and 8. where A may employ some or all of these literary devices: a) brevity of style (e. g. precepts, lists) b) the Haustafel c) antithetical statements (not ›a‹ but ›b‹) d) the offering of examples to be imitated« (3, gekürzt).

Auf der Oslo-Konferenz wurde dann eine Kurzdefinition beschlossen: »Paraenesis is (a) concise, benevolent injunction that reminds of moral practices to be pursued or avoided, expresses or implies a shared worldview, and does not anticipate disagreement« (4). Wiard Popkes, einer der führenden Spezialisten auf dem Gebiet neutestamentlicher Paränese, modifiziert die Oslo-Definition in seinem definitorischen Beitrag »Paraenesis in the New Testament: An Exercise in Conceptuality« für die neutestamentlichen Texte folgendermaßen: »Paraenesis is [1] clear, concrete, benevolent guidance that [2] reminds of practices to be pursued or avoided in the Christian way of life, [3] expresses a shared, articulated word view, and [4] does not anticipate disagreement« (42 f.).
Die umfangreichen und gewichtigen Beiträge in Teil I kämpfen alle mit dem Problem, dass Paränese ein moderner Kunstterminus ist, der von Martin Dibelius für eine bestimmte Gruppe urchristlicher Texte geprägt wurde (M. Dibelius, Die Frühgeschichte des Evangeliums 1919; 6. Auflage 1971, 234– 265), um sich im Laufe des 20. Jh.s zu einem eher unspezifischen, beliebten Fachbegriff für frühjüdische und frühchristliche ethische Texte zu entwickeln. In diesem weiteren Sinn wird »Paränese« dann bei Paulus gern der »Theologie« gegenübergestellt. Auf der anderen Seite gibt es durchaus Hinweise darauf, dass Paränese in der Antike doch auch als Gattungsbestimmung verstanden werden konnte.
Popkes plädiert für eine Beibehaltung des relativ weiten Begriffs Paränese für die neutestamentlichen ermahnenden Texte im Sinne der modifizierten Oslo-Definition. Exhortatio bzw. Protreptikos – die antiken termini technici – erscheinen ihm dagegen für eine adäquate Übersetzung in die modernen Sprachen ungeeignet (42, Anm. 118). Hier könnte aber die crux der ganzen Fragestellung liegen. Soll sich die neutestamentliche Wissenschaft einen terminus technicus für ihre ethischen Texte leisten, der diese Texte von vornherein im Gesamtgefüge griechisch-römischer ethischer Texte der frühen Kaiserzeit isoliert? Dass es sich bei Paränese doch nicht nur um einen neutestamentlichen insider term handelt, machen mehrere Beiträge deutlich. Diana M. Swancutt: »Paraenesis in Light of Protrepsis: Troubling the Typical Dichotomy« stellt Protrepsis und Paraenesis in Anlehnung an Paul Hartlich (1889) nebeneinander: Beide seien »exhortations to virtue first defined socially, and differentiated formally, in battles between speculative and practical philosophers vying for supremacy as educators in fourth-century Athens« (114), wobei die Paränese eher als Unterweisung in praktischer Weisheit, der lógos protreptikós eher als Ermahnung zur theoretischen Weisheit verstanden wurde. Swancutt weist darauf hin, dass die kaiserzeitliche Paränese und der kaiserzeitliche Protreptikos beide zentrale sozialpolitische Bedeutung hatten und das Verhalten ihrer Gruppen – seien es Elitegruppen oder Randgruppen – durchsetzen wollten. Die Paränese von Randgruppen – Swancutt denkt hier an Paulus – konnte durch Kritik oder durch Widerstand gegenüber der herrschenden ethischen Kultur ihre eigenen Standards als Ausdruck des Elitecharakters ihrer alternativen Lebenspraxis artikulieren (153).
Auch Troels Engberg-Pedersen versucht in seinem Beitrag »The Concept of Paraenesis«, die Paränese in der antiken philosophischen Literatur zu verorten. Ausgehend von Isocrates kommt er zu dem Urteil: »Ancient paraenesis was not just ›ex hortation‹, but something more specific, a speech act that was logically directed towards conduct, behaviour, acts-to-be-done or avoided« (51). Er stellt die Paränese damit in die Tradition »of hypothäkai of poetical wisdom« (53). In Senecas philosophischer Paränese erkennt er einen eigenen Typus der Paränese (admonitio), der zu den stoischen officia tendiert. Engberg-Pedersen stellt Paulus in diesen Zusammenhang: Paulus verstand seine Texte »as cases of proper philosophical paraínesis of the originally Stoic type. Paul’s paraínesis is Stoic paraínesis« (68). Nach Engberg-Pedersen hat Paulus damit ein eigenes »literary sub-genre« gebildet (ebd.), das Euthalius (4. Jh.) als solches richtig erkannt hat.
Diesem Aspekt ist der hochinteressante Beitrag von David Hellholm und Vemund Blomkvist gewidmet: »Parainesis as an Ancient Genre-Designation: The Case of the ›Euthalian Apparatus‹ and the ›Affiliated Argumenta‹«, Texte, die Nils Alstrup Dahl bereits für die Paränese-Frage bearbeitet hat. In den Kapitellisten des Euthalius (wohl ein Grammatiker des frühen 4.Jh.s, vgl. LACL Art. E., T. Fuhrer) zu den Paulusbriefen und den apostolischen Briefen begegnet Paränese für Röm 12,1 ff.; Eph 4,1 ff.; 1Thess 4,1 ff.; Phil 1,27 und 4,1 ff.; Kol 3,5 ff.; Tit 2,2 ff. und 3,9.10; 1Petr 5,1 ff.; Jak 5,12 ff. (ich beschränke mich auf die Briefe). Paränese lässt sich nach diesen Texten mindestens für die späte Antike als Untergattung der Briefliteratur beschreiben (518). Eine kritische Anmerkung: Die Dokumentation zu Euthalius sollte sich nicht ausschließlich auf N. A. Dahls glänzende Studie: The ›Euthalian Apparatus‹ and the ›Affiliated Argumenta‹, in: Ders., Studies in Ephesians, WUNT 131, Tübingen 2000, 231–275, stützen, so dass die Leser dies Buch neben den vorliegenden Band legen müssen!
Dass demgegenüber Paränese auch als Ziel eines Textes oder einer Rede verstanden werden kann und damit ihren Platz in unterschiedlichen literarischen Genera einnehmen kann, macht die kleine Studie von Hans Dieter Betz zu »Paraenesis and the Concept of God According to Oratio XII (Olympikos) of Dio of Prusa« deutlich. Aus diesem Bereich hätte man sich weitere Beiträge gewünscht.
Auf die gewichtigen Beiträge zu frühjüdischen und neutestamentlichen paränetischen Texten kann hier leider nicht eingegangen werden, auch nicht auf die Frage, wieweit diese über Popkes Studie »Paränese und Neues Testament«, SBS 168, Stuttgart 1996, hinausgehen. Samuel Rubensons Beitrag »Wisdom, Paraenesis and the Roots of Monasticism« gewährt einen willkommenen Blick auf die paränetischen Inhalte der Apophthegmata Patrum, die frühen Mönchsbriefe und die Vita Am brosii. Er weist darauf hin, dass Paränese nichts spezifisch Christliches oder Biblisches im antiken Ägypten war, sondern die Ägypter eine lange Tradition weisheitlicher Belehrung kannten und pflegten. Spätestens im 3. Jh. n. Chr. herrschte dann der Einfluss der griechischen philosophischen Ethik vor. Dieser Einfluss bestimmte nach Rubenson auch die ägyptische Mönchsexhortatio, während die literarische Form diejenige der christlichen Paränese war.
Insgesamt ist in dem vorliegenden Band umfangreiche philologische Arbeit geleistet worden. Der Problemkreis von protreptischer bzw. exhortatorischer Rede und die Frage, wieweit und in welcher Weise Paränese als literarische Subgattung oder als intentionale oder inhaltliche Größe in diesem Zusammenhang zu verstehen sei, werden gründlich, weiträumig und z. T. mit überraschenden Ergebnissen ausgeleuchtet. Fraglich ist, ob und wieweit die Klassische Philologie und die antike Philosophiegeschichte einerseits und die Patristik andererseits diese Beiträge rezipieren werden.

Sicher wäre es hilfreich gewesen, entsprechende Fachkollegen zu beiden Tagungen einzuladen und das Programm weniger stark neutestamentlich zu zentrieren. Wenn Neutestamentler »unter sich« altphilologische und patristische Fragen diskutieren, entsteht leicht eine schiefe Perspektive: die neutestamentlichen Schriften im Fokus und die griechisch-römische (und frühjüdische) Literatur als ›Zubringer‹, die altkirchliche Literatur als ›Wirkungsgeschichte‹. Trotz dieser Überlegungen – aus der Sicht der neutestamentlichen Wissenschaft liegt hier ein Band vor, an dem man nicht vorbeigehen kann, wenn man sich mit Themen neutestamentlicher Ethik und ihrer Gattungen beschäftigt.
Zum Schluss eine zweite formal-kritische Bemerkung: Die Bibliographie enthält ärgerliche Doppelungen (vgl. die Angaben zu M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, der fünfmal unterschiedlich bibliographiert ist). Hier stellt sich die Frage nach dem Sinn des amerikanischen Systems, das jüngste Erscheinungsjahr als erste Angabe nach dem Namen zu drucken.