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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1326–1328

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Onuki, Takashi

Titel/Untertitel:

Heil und Erlösung. Studien zum Neuen Testament und zur Gnosis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. VIII, 494 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 165. Lw. € 99,00. ISBN 3-16-147970-X.

Rezensent:

Titus Nagel

Der anzuzeigende Sammelband mit 14 Aufsätzen des japanischen Neutestamentlers aus den Jahren 1975 bis 2002 vereint Arbeiten, die bislang nur auf Japanisch vorlagen, mit solchen, die schon andernorts auf Deutsch publiziert, für den Abdruck jedoch nochmals überarbeitet wurden. Sie spiegeln repräsentativ die Interessen des Vf.s, deren Schwerpunkte einerseits auf der Jesus- und Johannesforschung, andererseits auf der Gnosisforschung liegen. Zugleich gewähren sie einen interessanten Einblick in die exegetische Diskussion der letzten Jahrzehnte in Japan.
Unter der Überschrift »Evangelien und Jesus« enthält Teil I Aufsätze, die vor allem die kultur- und sozialgeschichtliche Fragestellung auf die Evangelien applizieren (Kapitel I: »Tollwut in Q? Ein Versuch über Mt 12,43–45/Lk 11,24–26«), diese mit der formgeschichtlichen Fragestellung verbinden (Kapitel II: »Urform und Entfaltungen der Heilungswundergeschichen Jesu. Zur formgeschichtlichen Verortung der Semeia-Quelle des Johannesevangeliums«) und sie als explizite Literatursoziologie mit Hermeneutik, Texttheorie und Wissenssoziologie in einem Methodenzusammenhang reflektieren (Kapitel VI: »Zur literatursoziologischen Analyse des Johannesevangeliums. Auf dem Wege zur Methodenintegration«).

Es fällt auf, wie selbstverständlich der Vf. von einer Negativfolie des zeitgenössischen Judentums ausgeht. Die Makrostruktur des JohEv bestimmt er in Kapitel VI als Anleitung zur Reflexion der Verkündigungssituation der von den Juden an gefeindeten johanneischen Gemeinde (161–170), die ihr neues soziales Selbstverständnis, wissenssoziologisch gesprochen, in Abgrenzung von der dominanten, wenn auch instabil gewordenen symbolischen Sinnwelt des Judentums (183) finden soll. Schon Jesus, so der Vf. in Kapitel IV (s. u.), war das Opfer des »jüdische(n) Legalismus«, eines »an Leistungen orientierte(n) Egoismus« (93).

Kapitel V (»The Minjung Theology of Mark. A Dialogue with Ahn Byung Me«) problematisiert Methoden und Ergebnisse der Lektüre des MkEv durch die koreanische Minjung-Befreiungstheologie anhand des für sie grundlegenden Begriffs ochlos (minjung = einfaches Volk, Unterschicht). Indem der Vf. die sozialgeschichtlichen Implikationen der redaktionskritischen Fra gestellung zur Geltung bringt, interpretiert er den markinischen ochlos als Spiegelbild sowohl der Träger als auch der Adressaten der Evangeliumsverkündigung der markinischen Gemeinde, denen jeweils eine Stellungnahme zu Jesus abverlangt wird.
Die Aufsätze in den Kapiteln III (»Eine Reihe omnitemporaler ›Jetzt‹. Johannesevangelium, Hebräerbrief, Augustin, Walter Benjamin«), IV (»Zeitverständnis und Raumvorstellung Jesu und der Evangelien«) und VII (»Christologie und Eschatologie in der lukanischen Theologie. Ein Vergleich zu Johannes und zu gleich eine kritische Auseinandersetzung mit J. Ernst«) sind thematisch verbunden durch die – an J. Blanks für die Christologie des JohEv entwickeltem Begriff der ›personalen Implikation‹ orientierte – kairologische Konzeption eines »omnitemporalen ›Jetzt‹«, bei dem Gegenwart und Zukunft in eins zu sam men fallen.
In Kapitel IV entwirft der Vf. eine Verhältnisbestimmung von präsentischer und futurischer Eschatologie in den kanonischen Evangelien: Erstere sei der Verkündigung Jesu inhärent gewesen, was seinem kairologischen Zeitverständnis entsprach (84–87), Letztere sei der Beitrag der Urgemeinde. Durch die Integration beider Überlieferungsstränge hätten die Evangelisten, in Sonderheit die Synoptiker, eine Verdoppelung der Reich-Gottes-Vorstellung geschaffen, die zeiträumlich zu »konfigurieren« den Lesern als bleibende Aufgabe überlassen ist (114). Das in Kapitel IV vorgestellte »omnitemporale ›Jetzt‹« wird in Kapitel III anhand historischer Beispiele als legitime Deutungskategorie für das jesuanische Selbstverständnis plausibel gemacht und dient in Kapitel VII dazu, den Unterschied der lukanischen zur johanneischen Christologie mit ihren heilsgeschichtlichen Implikationen zu markieren. Ist Jesus als omnitemporale Person im JohEv zu allen dort zur Sprache kommenden Zeiten als derselbe anwesend, so stellt das LkEv die Identität Jesu als »in statu nascendi« im Verlauf der Heilsgeschichte vor (193–194).
Teil II enthält Aufsätze zum Thema »Frühchristentum und Gnosis«. In Kapitel VIII (»Fleischwerdung des Logos und Fehltritt der Sophia. ›Licht‹ und ›Finsternis‹ in Johannesevangelium und Gnosis«) arbeitet der Vf. die Unterschiede in Funktion und Bedeutung der jeweiligen Lichtsprache heraus und interpretiert diese Unterschiede als Deutung des JohEv durch die Gnosis (218–220). Im JohEv hat das »Licht« Ereignischarakter, weil es die omnitemporale Person Christi, die stets das gesamte Heilsgeschehen impliziert, bezeichnet (205). Dieser Aspekt wird in gnostischer Deutung ausgeblendet, da das »Licht« hier als anthropologische Konstante aufgefasst und substanzhaft gedacht wird (210).
Kapitel IX bearbeitet die »Traditionsgeschichte von Thomas 17 und ihre christologische Relevanz«. Der Vf. sieht den gemeinsamen Hintergrund von EvThom 17, 1Kor 2,9 und 1Joh 1,1 in einem Mischzitat von Ps 30,20 LXX und Jes 64,3; 65,16 LXX. Hinter 1Joh 1,1 vermutet er eine EvThom 17 »ähnliche« (235) Tradition, die der Verfasser des 1Joh zum Zweck der antignostischen Polemik in sein Proömium integriert habe.
Kapitel X (»Die dreifache Pronoia. Zur Beziehung zwischen Gnosis, Stoa und Mittelplatonismus«) zeigt begriffliche und funktionale Parallelen der gnostischen zur mittelplatonischen Pronoia- und Heimarmene-Vorstellung auf. Die gnostische Stoa-Kritik des ApokrJoh erweist sich als mittelplatonisch vermittelt; gleichzeitig polemisiert das ApkrJoh durch die Einzeichnung der Pronoien in den antikosmischen Dualismus (269) und durch die Eschatologisierung der Pronoia-Vorstellung (270) gegen den mittleren Platonismus.
In Kapitel XI (»Asketische Strömungen im frühen Christentum. Gnosis, Apokryphe Apostelakten und Frühes Mönchtum«) entwickelt der Vf. drei Typen von Askese: Dem gnostischen Typ, der auf die Vernichtung der Welt gerichtet ist, steht die weltbejahende Askese des frühen Mönchtums gegenüber. Der Enkratitismus der apokryphen Apostelakten stellt einen Mitteltyp dar, dessen sexualfeindlichen Begriff der »Keuschheit« die Großkirche in bürgerlich-monogamem Sinne umgedeutet habe (323–327).
Kapitel XII (»Rekapitulation und Heilsgeschichte bei Irenäus«) erörtert u. a. Probleme, die sich aus der Verbindung von johanneisch geprägter Christologie (›christologische Implikation‹) und heilsgeschichtlichem Entwurf bei Irenäus ergeben. Da die omnitemporale Person Jesu Christi das Subjekt der Heilsgeschichte in all ihren Epochen ist, drohen das christologische Novum der Inkarnation (369) und die Einheit der Person Jesu Christi beim Kreuzestod (»der Logos ruhte«, Haer III,9 [371 f.]), die Irenäus ja gerade gegen die Gnosis sichern will, verloren zu gehen.
Teil III unter der Überschrift »Apokalyptik, Gnosis und Ge genwartsprobleme« beschließt den Band mit zwei Aufsätzen, die der heutigen Relevanz von Apokalyptik und Gnosis nachgehen. Kapitel XIII (»Naturwissenschaft und Endzeitweissagung. Aus der Perspektive der antiken Apokalyptik«) fragt anlässlich des Sarin-Anschlags der Aum-Sekte in der Tokioer U-Bahn vom März 1995 nach der Affinität von Natur- und Ingenieurswissenschaften zum apokalyptischen Denken. Die Verbindung sieht der Vf. im objektivierenden, determinierten Verständnis von Natur und Geschichte (404). Als bleibendes Thema der Gnosis entfaltet der Vf. in Kapitel XIV (»Gnosis und gegenwärtiger Geist«) die Frage nach dem ›Selbst‹ des Menschen anhand der existentialen und psychologischen Gnosis-Interpretationen von H. Jonas und C. G. Jung. In der Gnosis transzendiert sich das ›Selbst‹ und gerät so in die Einsamkeit und Beziehungslosigkeit (417); nur in der Begegnung mit Gott als dem absolut An deren, für den in der Gnosis kein Platz bleibt, kann das ›Selbst‹ zu sich selbst kommen (434).
Die hier zusammengestellten Aufsätze präsentieren Takashi Onuki als engagierten Gelehrten, der sich auch nicht scheut, Rechenschaft zu geben über seine persönliche Betroffenheit und Interessenlage (vgl. Kap. V. 57–59.441). Stellen-, Autoren-, Sach- und Namenregister erschließen den Band, der eine Fülle von Einsichten und Anregungen enthält.