Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1323–1326

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Koch, Stefan

Titel/Untertitel:

Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XIV, 337 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 174. Kart. € 64,00. ISBN 3-16-148004-X.

Rezensent:

Heike Omerzu

Fragen des Rechts, seiner Ordnung und seiner Güter, waren lange Zeit ein vernachlässigter Bereich neutestamentlicher Exegese, dem in jüngerer Zeit jedoch erfreulicherweise wieder verstärkte Aufmerksamkeit zukommt. Dabei steht vor allem im Interesse, wie das Leben der frühen Christen und Christinnen innerhalb ihrer paganen Umwelt durch griechisches und römisches Recht bestimmt und beeinflusst wurde. Im weitesten Sinne handelt es sich also um das Verhältnis von »Kirche und Staat«. Darüber hinaus kommen rechtliche Zusammenhänge aber auch als wesentliches Regulativ des menschlichen Zusammenlebens innerhalb der frühchristlichen Gemeinden zum Tragen, als eine frühe Form des »Kirchenrechts«. Diesem zweiten, von exegetischer Seite zumindest in monographischer Form insgesamt weniger beachteten Zusammenhang widmet sich die vorliegende Studie, die im Wintersemester 2001/2002 von der Kirchlichen Hochschule Bethel als Dissertation angenommen und von Andreas Lindemann betreut wurde.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Analyse frühchristlicher Konflikte und deren Lösungen, die K. aus Gründen der thematischen Präzisierung auf »innergemeindliche Auseinandersetzungen« (1) beschränkt. K.s Ziel ist es, »Einsichten über die Gemeinschaft mit ihren Normen, Kommunikationsstrategien und Verhaltensmustern, die für ein gelingendes Miteinander sorgen sollen« (4), zu gewinnen. Es handelt sich also vornehmlich um eine soziologische bzw. – in lockerer Anlehnung an S. Lamnek, N. Luhmann und H. Willke (vgl. 3 f.) – systemtheoretische Perspektive, die allerdings nicht näher ausgeführt wird. Diese mangelnde methodische Grundlegung betrifft auch die weitere Zuspitzung des Themas auf »Konfliktlösungen, die rechtliche Implikationen bzw. rechtliche Regelungen erkennen lassen« (5). Der dabei zu Grunde gelegte Rechts- bzw. Normenbegriff bleibt (bewusst?) unscharf: »Rechtliche Regelungen zur Konfliktlösung lassen sich feststellen, wenn in der jeweiligen Konfliktlösung Begriffe verwendet werden, die einem juristischen Kontext angehören, bzw. wenn gruppeninterne Strukturen erkennbar werden, die an bekannte juristische Verfahrensweisen erinnern« (6; vgl. auch 5, Anm. 11). Dieser Definition lässt sich freilich vieles zuordnen; dementsprechend erscheint die Auswahl der herangezogenen Texte (vgl. dazu 10, Anm. 18) nicht unbedingt schlüssig, was im Übrigen auch hinsichtlich der Konzentration auf innergemeindliche Konflikte gilt. In einem einführenden Forschungsüberblick (11–30) wird das Thema in Bezug auf seine ekklesiologischen und ethischen Implikationen beleuchtet. Daran schließt sich ein in kanonischer Reihenfolge geordneter – mit Didache und 1. Clemensbrief jedoch die Kanongrenzen überschreitender – Durchgang durch verschiedene Texte an, die Konflikte thematisieren. So soll Einsicht in die jeweiligen Konfliktlösungen und ihr Verhältnis zur Entwicklung der sie tradierenden Gemeinden gewährt werden. Den Auftakt bilden Ausführungen zum Logion von der Größe im Dienen (Q 7,28; Mk 9,35b par; 10,43 ff. par; Mt 23,11; 31–47). Dieses wird auf Grund seiner vielfältigen Anwendung – in ekklesiologischen, christologischen und soteriologischen Kontexten – als Gemeindebildung bestimmt, auch wenn sich das Dienen im Gegenüber zu Herrschaftsstrukturen der Umwelt als »Verhaltensnorm in der christlichen Gemeinschaft … jesuanischem Vorbild verpflichte[t]« (225) wisse. Die Untersuchung von Q 6,37 f.41 f.; 12,58 f.; 17,3b (48–65) ergibt, dass nach dem Zeugnis der Logienquelle Konflikte im Horizont eschatologischer Gerichtserwartung eigentlich durch Rechtsverzicht, wo dies jedoch nicht möglich ist, durch innergemeindliche Zurechtweisung, die zur Umkehr führt, gelöst werden sollten. Mt 18,15–17 (66–83) bietet unter Aufnahme judenchristlich tradierter Normen (vgl. Lev 19,17; Dtn 19,15) eine »praxisorientierte innergemeindliche Strategie zur Lösung von Konflikten …, die auf eine Wiedergewinnung des Sünders zielt« (81). Für die lukanische Sichtweise werden neben Apg 5 und 15 die Nachrichten der Apostelgeschichte zur Kollekte (Apg 11,29 f.; 20,4; 21,17; 24,17) und zum Nasiräat des Paulus (Apg 21,23 f.26; 24,17 f.) herangezogen (84–108), wobei sich »fast durchgängig … Konfliktlösung in judenchristlicher Perspektive und Prägung« (108) zeigen lasse. Dass »Lukas an der Darstellung von Konfliktlösungen mehr interessiert ist als an der von Konflikten« (108), ist wenig überraschend. Ob sich diese aber auch zugleich als »Rechtspraxis gültiger Normen« (107) auffassen lassen, scheint mir zweifelhaft und müsste stärker im Kontext des gesamten Doppelwerks bedacht werden.
Dass mit einer »judenchristlichen Perspektive« allenfalls ein Aspekt der lukanischen Gemeindewirklichkeit abgebildet ist, erweist sich letztlich bereits daran, dass die zur Frage »Christen im Konflikt mit dem Imperium Romanum« (109–132) gebotenen Ausführungen ebenfalls hauptsächlich auf die Apostelgeschichte rekurrieren, insofern hier das römische Bürgerrecht des Paulus und dessen Prozesse bzw. die Appellation vor römischen Behörden diskutiert werden (Apg 18; 24; 25 f.). Abgesehen da von, dass die Relevanz dieser Ausführungen für das Problemfeld innergemeindlicher Konflikte nicht plausibel wird (vgl. die eigene Einschränkung K.s, 109), ist neben etlichen juristischen Aspekten vor allem die Einschätzung in Frage zu stellen, Lukas sehe im Paulusprozess einen »Idealfall römischer Rechtspraxis im Umgang mit Anschuldigungen jüdischer Instanzen gegen Christen« (119; vgl. auch 131 f.). Als mindestens diskussionswürdig muss in diesem Zusammenhang auch die von K. befürwortete These gelten, Lukas sei bestrebt, »das frühe Christentum als (einzig?) legitimes Judentum zu zeigen« (131).
Die paulinische Haltung wird zunächst anhand von 1Kor 5 f. in den Blick genommen (133–159), um im Anschluss auf Grund von 1Kor 12,3; 16,22; Gal 1,8 f. und Röm 9,3 die rechtliche Dimension des Begriffs àÓ¿1ÂÌ· auszuloten (160–175). Flüche als Formen rechtlicher Regelung von Konflikten wurden »von Paulus auf dem Hintergrund deuteronomisch-deuteronomistischer Bannvorstellungen rezipiert« (173) und dienten ihm als Strategien der Konfliktvermeidung bzw. als »ultima ratio der Rechtsdurchsetzung« (175). Anhand des Amtsverständnisses in 1Tim 1,20; 3,1–7; 5,19 f.21 wird sodann für die Pastoralbriefe herausgestellt, dass Konfliktlösungen »durch Übernahme traditioneller und konventioneller Normen« (196) erfolgen, wobei Normen christlicher wie paganer Herkunft miteinander verknüpft und dem neuen Kontext angepasst seien (Kapitel 10; 176–196). Den Abschluss der Analyse bilden zwei Kapitel zur weiteren Entwicklung, wie sie sich in der Didache (Kapitel 11; 197–209) und im 1. Clemensbrief (Kapitel 12; 210–223) niedergeschlagen hat.
Die Zusammenfassung (224–244) zeichnet den frühchristlichen Umgang mit Konflikten dergestalt nach, dass in der Regel aktuelle (1Kor 5; Apg 15) zu usuellen Konfliktlösungen weiterentwickelt wurden (1Tim 1,20; Apk 2,14.20). Letztere könnten teilweise aber auch ohne konkreten Anlass als strategische Lösungen potentieller zukünftiger Konflikte formuliert worden sein (z. B. Mt 18,15–17; 1Kor 6,1–8; 1 Tim 3,2 f.; vgl. 229). Während anfänglich aus eschatologischen Erwägungen he raus auch Versuche der Konfliktvermeidung begegneten (besonders Q; Mk 9 f.; Apg 5,1–11; 1Kor 12,3), zeichne sich mit voranschreitender Zeit – auf Grund der Erfahrung »real vorkommenden Fehlverhaltens« (236) und entwickelter theologischer Einsichten – die Tendenz ab, tradierte Normen zu adaptieren. Dabei komme der biblisch-frühjüdischen Tradition die größte Bedeutung zu, frühchristliche Konfliktlösung sei im Kern jüdisch. »Ein Einheit stiftendes, mit jesuanischer Autorität versehenes Modell zur innergemeindlichen Konfliktlösung ist nicht erkennbar« (240). »So kann man festhalten, dass es aus historischer Sicht einen vielgestaltigen, aber nicht einen spezifisch christlichen Umgang mit Konflikten in den frühchristlichen Gemeinden gegeben hat« (2), der freilich in ekklesiologischer Hinsicht der Stärkung von Identität und Ge meinschaft diente.
Der Band wird erschlossen durch ein Literaturverzeichnis (245–305), das leider – wie das Werk überhaupt – etliche Tippfehler enthält (vgl. allein 135; 163 f. die griechische Schreibweise des Namens Jesu mit Epsilon statt Eta). Es schließen sich Register der Stellen, Autoren und Sachen an (307–337).
Insgesamt bietet K.s Untersuchung eher einen Überblick über die Konfliktkultur verschiedener frühchristlicher Trägerkreise vor dem Hintergrund der sie prägenden Traditionen, als dass sie Auskunft über die Bedeutung rechtlicher Normen gibt. Dabei hätten die einzelnen Texte teilweise noch intensiver in ihrem jeweiligen traditions-, religions- und sozialgeschichtlichen Kontext analysiert und auch miteinander verknüpft werden können (vgl. z. B. die unverbundenen Ausführungen zur Kollekte bei Lukas und Paulus). Vor allem aber steht noch eine umfassende Bearbeitung der Bedeutung rechtlicher Zusammenhänge für die Entwicklung des frühen Christentums aus. Dabei müsste nicht zuletzt die – künstliche – Unterscheidung von Anwendung und Wirksamkeit von Rechtsnormen innerhalb der Gemeinden und im Gegenüber zu ihrer Umwelt aufgegeben werden und das Recht als ein Bereich, der alle Aspekte der Gemeindewirklichkeit umfasst, ernst genommen werden.