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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

405–407

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thüsing, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. II: Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1998. 362 S. gr.8. Geb. DM 78,-. ISBN 3-402-03409-3.

Rezensent:

Peter Stuhlmacher

1996 ist der erste Band des programmatischen Werks von W. Thüsing über "Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus" in zweiter Auflage erschienen. Der Autor entfaltet hier die seine Konzeption tragende These und die Kriterien, welche die neutestamentlichen und nachneutestamentlichen Theologien - wie er provozierend sagt - "legitimieren" können: "Maßstab der Legitimation von christlichen (sic!) Theologien" ist nach Thüsing "weder allein der irdische Jesus und seine ,Sache’ noch allein der erhöhte, sondern der Jesus des neutestamentlichen Glaubens, der der Irdische (also letztlich der Gekreuzigte) und der Auferweckte in Identität ist"; entsprechend "(sind) die Kriterien der Legitimation ... sowohl aus dem Sendungsanspruch, der Intention und dem Weg Jesu zu gewinnen als auch durch die christologische Transformation zu bestimmen, die durch Auferweckung und Erhöhung als die Aufnahme des gekreuzigten Jesus in das wirkmächtige Geheimnis Gottes zustandekommt" (28).

Der nun vorliegende zweite Band entfaltet das "Programm einer Theologie des Neuen Testaments", reflektiert über Struktur und Anlage einer Biblischen Theologie und bereitet die "dialogische Begegnung von Theologie des Neuen Testaments und Dogmatik" (275) vor. Auch dieses Mal konzentriert sich T. noch einmal ganz auf grundsätzliche Erörterungen. Erst im dritten Band will er das Zentralthema: "Einzigkeit Gottes und Jesus-Christus-Ereignis" behandeln und im vierten das Neue Testament "vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zum Teil" untersuchen, und zwar "auf dem Wege von Strukturbestimmungen und Strukturvergleichen" (15). Die beiden Bände sind im Manuskript weitgehend fertiggestellt. Leider ist der Autor aber am 24. Mai 1998 verstorben. Hoffentlich führt der Verlag das opus magnum trotzdem zu Ende und wehrt damit dem Eindruck, T. habe sich in der Erörterung von theologischen Struktur- und Grundsatzfragen erschöpft.

Das Buch ist R. Schnackenburg gewidmet und sehr dicht geschrieben. Die Darstellung wird aber durch anschauliche Graphiken und tabellarische Übersichten sowie ein knappes Register von Stellen, Autoren und Sachen erschlossen. Auf ein Vorwort (12-20) folgen drei Hauptteile und ein Nachtrag. In Teil I (21-186) geht es um das "Programm einer ,Theologie des Neuen Testaments unter dem Aspekt der Kontinuität mit Jesus Christus", in Teil II (187-244) um "Perspektiven für eine Biblische Theologie des Alten und Neuen Testaments", in Teil III (245-284) um "Konsequenzen des Programms für die nachneutestamentliche Theologie", und im ,Nachtrag zu einem Zentralthema des I. Bandes" (285-344) führt T. ein kritisches Gespräch mit U. Luz über die Frage, ob "eine von den neutestamentlich-theologischen Konzeptionen unabhängige nachösterlich-transformierte Gestalt" jener Kriterien entwickelt werden kann, die sich aus Botschaft, Wirken und Leben Jesu von Nazaret ergeben (288). Luz hat dies in seinem Beitrag zur Festschrift für E. Schweizer "Die Mitte des Neuen Testaments" (1983) für unmöglich erklärt, während T. es nach wie vor für richtig und durchführbar hält.

Wenn man der Theorie des Autors folgt, darf sich die Exegese des Neuen Testaments nicht mit Textanalysen begnügen, sondern muß zuerst eine neutestamentliche Theologie erarbeiten, deren Kriterium "der Jesus des neutestamentlichen Glaubens" ist (s. o.); dann muß sie in Anerkennung des Kanons "eine theologische Verbindung von Altem und Neuem Testament unter gesamtbiblischem Aspekt" suchen (190) und in einem dritten Schritt das Gespräch mit der Dogmatik eröffnen, um die Rezeption des Evangeliums in Glaube und Leben der Kirche zu fördern. Dieser dreifachen Aufgabenstellung werden Exegeten, die bewußt im Dienst der Kirche arbeiten, kaum widersprechen. Probleme ergeben sich erst bei der Durchführung des Programms.

T. leitet seine Leser an, von einer bestimmten exegetischen Basis aus zu einer neutestamentlichen Theologie in seinem Sinne fortzuschreiten. Da er diese Basis nicht zur Diskussion stellt, ergibt sich schon im ersten und nun auch im zweiten Band ein fundamentales Problem. Der Autor will die heute wissenschaftlich gebotene historische Rückfrage nach Jesus verschränken mit dem vom neutestamentlichen Kerygma geforderten Verstehen Jesu aufgrund des Auferweckungs- und Erhöhungsglaubens. Er tut dies mit Hilfe der (verbreiteten!) Annahme, der Jude Jesus von Nazaret habe zwar die Herrschaft Gottes verkündigt, aber nur erst einen indirekten Hoheitsanspruch erhoben; erst aufgrund von Ostern sei das Wirken des einen Gottes mit der Verkündigung Jesu zusammengedacht und er als Herr und Erlöser bekannt worden. Unter Ostern versteht T. ein "schöpferisch-neues Handeln Gottes an dem toten Jesus von Nazaret" (184), so daß er pointiert sagen kann: "Auf dem Throne zur Rechten Gottes sitzt der nach wie vor auf die Basileia des einzigen Gottes hingeordnete jüdische Mensch Jesus" (236). Diese vom Menschen Jesus ausgehende Erhöhungschristologie und T.s Osterdefinition sind aber moderne Konstrukte, für die es keine exegetischen Belege gibt. Vielmehr vertreten alle neutestamentlichen Hauptzeugen v on Anfang an Varianten jener Hochchristologie, die T. für eine (ganz) späte Bildung hält. Von den Texten her wäre es geboten gewesen, diese alte Hochchristologie mit der Rückfrage nach Jesus zu verschränken. Aber wie dies geschehen könnte, lehrt T. nicht. Sein Vorgehen ist also hermeneutisch höchst problematisch.

Das Problem verschärft sich in Teil II. T. betont zwar, "daß Jesus von Nazaret weder ausschließlich dem Alten Testament zuzuordnen ist noch ausschließlich dem nachösterlichen Neuen Testament" (197), und er sieht "in der personalen Wirklichkeit ,Jesus Christus’" die entscheidende Größe, die Altes und Neues Testament theologisch verbindet (198). Trotzdem weicht er der für das Verständnis Jesu in einer gesamtbiblischen Theologie entscheidenden Täuferfrage aus: "Bist du der, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?" (Mt 11,3). Bei der Antwort wäre er auf das schon vor Ostern umstrittene messianische Wirken des irdischen Jesus gestoßen. Aber T. vermeidet diese konkrete Perspektive und begibt sich auf die Suche nach alttestamentlichen Strukturlinien, die sich auch im Neuen Testament durchhalten und eine Zusammenschau von Altem Testament, "der jesuanisch-theologischen Struktur" und dem Auferweckungsglauben erlauben (235). Dieser Überschritt zur Erfassung und Verhältnisbestimmung von Strukturen provoziert aufs neue die schon von U. Luz gestellte Frage, ob es hermeneutisch überhaupt möglich und erfolgversprechend ist, die vorgegebene Sprachgestalt der Texte zugunsten von Strukturdefinitionen zu verlassen, die von dieser Sprache absehen. Biblisch-theologisch (ver)führt dieses Verfahren dazu, die konkreten Traditionen und Personen zu übersehen, die beide Testamente verbinden; eine Theologie der ganzen Bibel kann so nicht entstehen.

Wenn T. in Teil III für den Dialog zwischen Exegese und Dogmatik und "die Wiedergewinnung einer ganzheitlichen Gesamttheologie" eintritt (279), verdient er Zustimmung. Auch seine zweifache Warnung verdient Gehör, daß man bei dieser Arbeit weder "den Glauben der Kirche in neutestamentliche oder auch biblische Theologie aufgehen" lassen (255) noch dem Bestreben nachgeben darf, das Zeugnis der Schrift in einen umfassenden kirchlichen Traditionsbegriff hinein aufzusaugen (267).