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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1321–1323

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hill, Charles E.

Titel/Untertitel:

The Johannine Corpus in the Early Church.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2004. XIV, 531 S. m. Abb. gr.8°. Lw. £ 84,00. ISBN 0-19-926458-9.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Hill, Neutestamentler in Orlando, Florida, plant mit diesem im Wesentlichen 2001 fertiggestellten Buch, ein dreibändiges Werk zur Entstehungssituation und Aufnahme der johanneischen Schriften zu eröffnen (2, Anm. 3). Zu den johanneischen Schriften rechnet H. neben dem JohEv und 1–3Joh auch die Offb, doch im vorliegenden Band beschäftigt er sich vorwiegend mit dem JohEv. H. tritt mit seinem Buch an, eine seit W. Bauer verbreitete Vermutung zur frühen Rezeptionsgeschichte des JohEv zu entkräften und geradezu in ihr Gegenteil zu kehren. Nach der Vermutung Bauers wäre das JohEv in den sich als orthodox formierenden Kreisen der frühen Christen lange abgelehnt worden und hätte erst in der Zeit des Irenäus, also um 180 n. Chr., einen späten Siegeszug in der orthodoxen Kirche errungen (W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 1934, 2. Aufl. 1964, bes. 208–214, H. verwendet die englische Übersetzung von 1971). H. nennt diese Vermutung »orthodox Johannophobia« (3 et passim). Nach H. dagegen war das JohEv bereits in der ersten Hälfte des 2. Jh.s eine selbstverständlich verwendete Grundlage der christlichen Gemeinden, bevor gnostisierende Kreise es eigentümlich auslegten.
In seiner Hinführung (1–10) verteidigt H. die historische Angemessenheit mancher Begriffe wie etwa »Großkirche« (6–9) aus frühen patristischen Quellen heraus. Ein Forschungsüberblick (Kapitel 1, 13–55) sammelt, bei W. Bauer einsetzend, zahlreiche Vertreter der durch H. bekämpften Theorie und nennt seine in jüngster Zeit vermehrt auftretenden Mitstreiter, allen voran F.-M. Braun (1959, vgl. H. Thyens kritische Rez., ThR 39, 1975, 318–320), M. Hengel (1989/1993, vgl. F. Neugebauer, ThLZ 119, 1994, 649–652) und, nachträglich noch eingearbeitet (52 f.), T. Nagel (2000, vgl. meine Rez., ThR 68, 2003, 300–302, das Register übergeht einige Nennungen Nagels, so 232 f.246.327 f.336). Zu seinen Mitstreitern hätte H. auch den Rezensenten rechnen können.
Nach einem Hinweis zur Fragestellung und zum Aufbau des Buches (Kapitel 2, 56–71) bespricht H. die Rezeption des JohEv im 2. Jh. (Kapitel 3–7), wobei er sich gegen die Zeitachse zurückarbeitet. In diesen chronologischen Aufriss fügt H. die Diskussionen um Gaius (Kapitel 4) und die gnostische Verwendung des JohEv ein (Kapitel 5).
H. hält sich nicht lange bei der unstrittigen Benützung des JohEv durch Irenäus auf. Sein Augenmerk gilt vielmehr den Rückblenden in diesem Werk, die jeweils auch bei den Gesprächspartnern in Rom eine positive Aufnahme des JohEv voraussetzen (95–118). Die Verbreitung des JohEv in Rom belegen auch die Zeichnungen in den römischen Katakomben durch vielfach spezifisch johanneische Motive. Auch wenn die Datierungen ins frühe 3. Jh. strittig bleiben, zeugen die Malereien von einer im Kirchenvolk verwurzelten Frömmigkeit, die sich stark auf das vierte Evangelium stützt (155–166).
Vor allem die antidoketische Christologie des JohEv führte bei einzelnen gnosisnahen Quellen (vgl. u. a. die Nag Hammadi-Schriften Protennoia [NHC XIII], 2ApkJak [NHC V,4], EpJac [NHC I,2]) sogar zu einer Kritik am JohEv (242–280). Die Kritik am JohEv, von der Irenäus berichtet (advhaer 3,11, 9), dürfte auf ähnliche heterodoxe Kreise zurückgehen (111–118). Gaius war nicht repräsentativ für die Position der Stadt und schon gar nicht »Bischof von Rom« (172–204). Die dubiosen »Alogoi« bei Epiphanius gehen, wenn überhaupt auf historische Daten, dann auf die Voten gegen das JohEv zurück, die Epiphanius aus Irenäus und Euseb kannte (183–190).
Ausführlich bespricht H. die Rezeption des JohEv bei Justin (312–351). H. zeigt bei Justin nicht nur punktuelle Anspielungen auf spezifisch johanneisches Gut, sondern auch tragende theologische Motive (»key influence«, 330), die Justin aus dem JohEv übernimmt. So trägt etwa die in der Überlieferung des »westl. Textes« erhaltene Lesart zu Joh 1,13 mit ihrer christologischen Deutung die Vorstellung von der Jungfrauengeburt bei Justin. Beachtenswert ist H.s Hinweis auf die zweimal bei Justin genannten »Akten zur Zeit des Pilatus« (1apol 35,9; 48,3), die öfters mit »Akten des Pilatus« wiedergegeben werden. Justin dürfte, so H., mit diesen »Akten« die uns bekannten Evangelien bezeichnen (332–335).
Bei den Quellen für eine Rezeption des JohEv in der Zeit vor 150 (Kapitel 7) ist die Beweislage knifflig. Massiv und eindeutig stützt sich die EpAp auf das JohEv (366–374). H. zeigt, wie Papias und der durch ihn zitierte Presbyter das JohEv voraus setzen. H. hat bereits ausführlich an anderer Stelle den etwas schwierigen Indizienbeweis angestellt, dass Euseb in h.e. 3,24, 5–13 ohne Namensnennung aus dem verlorenen Werk des Papias zitiere (386–394). Auch wer dieser m. E. beachtlichen Argumentation nicht folgen will, kann schwer die übrigen Argumente zur Seite wischen, die für eine Kenntnis des JohEv bei Papias, also um 120, sprechen (383–396).
H. betont zu Recht, dass manche Arbeit zur Rezeption des JohEv im 2. Jh. das argumentum e silentio überstrapaziert. Etwa Ignatius zitiert weder aus dem JohEv noch aus einem anderen Evangelium. Eine derartige Schreibtischarbeit ist von ihm auf seiner Reise zum Martyrium nicht zu erwarten. An genügend Stellen stützt er sich hinreichend deutlich auf Sondergut des JohEv (421–443).
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse (Kapitel 9), Zeittafel und Landkarte zu den Orten der Joh-Verwendung im 2. Jh. beschließen den Hauptteil des Werkes. Ein Anhang mit Bibliographie (478–498), Register zu Stellen (499–518), modernen Autoren (519–552) und Stichworten (523–531) erschließt das Werk.

H. bietet meist englische Übersetzungen der Quellentexte, in die er in Klammern relevante griechische Vokabeln einfügt. Bei den griechischen Vokabeln sind dabei etwas oft die Akzente, in wenigen Fällen auch Buchstaben falsch (z. B. 317.340). H. amerikanisiert deutsche Vornamen und schreibt von »Theodore Zahn« (41.180) und »Louise Abramowski« (487). Wenigstens wenn er Letztere »Abrahamowski« nennt (217.482), geht H. zu weit. Ein Walter Bauer vorenthaltenes »e« im Namen leiht H. später Ferdinand Christian Baur (167.287, Anm. 317).

H. überblickt für seine These ein weites Feld von Quellenbelegen, die hier nicht aufgezählt werden können. Wer hier unbeackerte Stellen finden will, muss suchen. Dass bei den vor allem durch Irenäus überlieferten »Presbyternotizen« johanneische Anspielungen und jüdische Traditionswurzeln korrelieren, vermerkt H. ausdrücklich (409). Die christlichen Zusätze zu frühjüdischen Schriften, etwa zu den Testamenten der Zwölf Patriarchen, könnten insgesamt H.s These stützen, dass das JohEv hoch im Kurs stand gerade auch in Kreisen mit judenchristlichen Traditionswurzeln.
H. berücksichtigt an innerneutestamentlicher Benützung des JohEv nur den 1Joh, der seiner Ansicht nach dem JohEv folgte (443). Eine Deutung von Joh 21 als Anhang und somit eine getrennte Untersuchung von Joh 1–20 und Joh 1–21 weist H. per Fußnote zurück (443, Anm. 295). Der 2Petr dürfte seine These stützen (vgl. Th. K. Heckel, Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Petrusbriefes …, in: R. Gebauer/M. Meiser [Hrsg.]: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums, FS O. Merk, MThSt 76, 2003, 189–204, bes. 200–202). Aus der Textüberlieferung stellt H. erhaltene Schriftenanordnungen beim Codex Bezae Cantabrigiensis (Nestle Abk.: »D 05«) und des Majuskel-Pergamentfragments genannt »Papyrus Antinoopolis 12« (Nestle Abk.: »0232«) vor, um mit ihnen eine frühe Ausgabe des »Corpus Johanneum« plausibel zu machen (453– 459). Vielleicht wären auch die Textangleichungen innerhalb der Evangelien als Argument für eine frühe Gleichordnung des JohEv mit den Synoptikern einer Untersuchung wert.
H. bietet einen umfassenden Überblick und weitet so auch die Untersuchungsgrundlage einschlägiger neuerer Monographien. Die Hauptthese steht fest und mag das Anbranden ge genläufiger Vermutungen leicht überstehen: Das JohEv musste nicht erst gegen Ende des 2. Jh.s heimgeholt werden in den Kreis der anerkannten Schriften. Eine Abneigung gegen das vierte Evangelium gab es nur bei wenigen einzelnen Theologen des 2. Jh.s, die meist gnostisierenden Gruppen angehörten. Die erhaltenen Quellen von Ignatius, Papias, Polykarp und Justin bis Irenäus setzen entweder das JohEv positiv voraus oder zeigen jedenfalls bei verwandten, mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem JohEv geschöpften Gedanken keinerlei Abwehrhaltung. Es gibt also eher eine orthodoxe Johannophilia als die seit W. Bauer viel vermutete Johannophobia. Das in der Auseinandersetzung faire, in der Quellendurchdringung umfassende und im Ergebnis rundweg überzeugende Buch macht neugierig auf die weiteren Bände zur Frühgeschichte des Corpus Johanneum.