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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1318–1321

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Udo Schnelle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive. Hrsg. unter Mitarbeit v. J. Schlegel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 799 S. m. Abb. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 175. Lw. € 144,00. ISBN 3-16-148303-0.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

Der Band hat sich aus einer Arbeitstagung neutestamentlicher Forschungskolloquien der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Jahr 2001 entwickelt. Entstanden ist eine umfas sende Sichtung des Forschungsstandes zu den religions- und traditionsgeschichtlichen Wurzeln des JohEv und darüber hinaus eine material- und facettenreiche Sammlung von Studien, welche die Johannesforschung wesentlich bereichert und im internationalen Gespräch speziell die deutschen Positionen dokumentiert. Das Verhältnis des JohEv zu den Johannesbriefen sowie zu Apk bleibt jedoch ausgespart (45).

Jörg Frey, »Auf der Suche nach dem Kontext des vierten Evangeliums« (3–45), beschreibt kenntnisreich und präzise den Weg der Arbeit am 4.Evangelium hin zu Bultmanns klassischem Modell und wieder fort von diesem und führt damit in die Probleme ein. Udo Schnelle, »Historische An schlußfähigkeit. Zum hermeneutischen Horizont von Geschichte und Traditionsbildung« (47–78), verortet die Fragestellung in einer weiteren geschichtshermeneutischen Perspektive. Ruben Zimmermann analysiert in »Jesus im Bild Gottes« »Anspielungen auf das Alte Testament im Johannesevangelium am Beispiel der Hirtenbildfelder in Joh 10« (81–116) und sucht dabei vor allem Anschluss an die neuere komplexe Intertextualitätsforschung, welche die möglichen Verhältnisse zwischen Prätexten und Texten stark differenziert hat. Die Hirtenmetapher Joh 10 »ist eine ›Anspielung‹ auf die Bildfeldtradition von ›Gott dem Hirten‹ und vollzieht damit eine ›metaphorische Identifikation‹ Jesu mit Gott« (113). In »Licht aus den Höhlen? Der ›johanneische Dualismus‹ und die Texte von Qumran« (117–203) relativiert wiederum Jörg Frey in Weiterführung eigener Arbeiten sowie im Anschluss an die wegweisenden Studien von Armin Lange einen möglichen Einfluss qumranischen Denkens auf das JohEv. U.a. wird am Einzelproblem des Dualismus exemplarisch vorgeführt, wie sich bei präziserem Hinsehen viele der in der älteren Forschung der 1950er und 1960er Jahre notierten Ähnlichkeiten relativieren. Nebenbei wird in die Diskussion um die Unterscheidung gruppenintern produzierter versus nur in Qumran tradierter antik-jüdischer Schriften eingeführt sowie in neuere Thesen zur Redaktionsgeschichte von 1QS und 1QM (die »Zweigeisterlehre« 1QS III,13–IV,26 erweist sich dabei als wohl voressenischer Text). Carsten Claussen (205–232) vergleicht Joh 17 mit Gebeten aus zeitgenössischen Pseudepigraphen (syr. Bar. 48, 2–24 und 4Esra 8,20–36). Michael Becker widerspricht in »Zeichen. Die johanneische Wunderterminologie und die frührabbinische Tradition« (233–276) einer radikalen Skepsis, welche die Benutzung rabbinischer Texte der nachmischnischen Zeit für das Verständnis des 1. Jh.s grundsätzlich ausschließt. Folker Siegert (277–293) zeigt, wie der hellenistisch-jüdische Logosbegriff Philons in besonderer Weise der Christologie von Joh 1 vorgearbeitet hat, jedoch vor der Inkarnationsaussage stehen bleibt (ähnlich Jutta Leonhardt-Balzer, 295–319). Michael Labahn – der sich in den letzten Jahren mit einer An zahl von Beiträgen als eine beachtenswerte Stimme in der Johannesforschung profiliert hat – behandelt »Die ÿ·ÚÚËÛ›· des Gottessohnes im Johannesevangelium« (321–363) und zieht zur Erhellung Traditionen der antiken Philosophie, vor allem des Kynismus, heran. Auch die Parrhesia des Kynikers hat eine soteriologische Dimension (362). Manfred Lang (365–412) macht das Corpus antiker Trostliteratur (u. a. Seneca) für die Exegese der Abschiedsreden fruchtbar. Klaus Scholtissek (413–439) analysiert die johanneische Freundschaftsethik vor ihrem hellenistischen Hintergrund. In einem umfangreichen Forschungsüberblick referieren wiederum Michael Labahn und Manfred Lang »Johannes und die Synoptiker. Positionen und Impulse seit 1990« (443–515). In exemplarischer Sorgfalt wird gezeigt, wie die Position einer deutlichen Bezugnahme des JohEv auf synoptische Prätexte in den letzten Jahren immer mehr Anhänger gewonnen hat, ohne die Gesamtheit der beteiligten Forscherinnen und Forscher überzeugen zu können (anders z. B. Jürgen Becker). Die Gestaltungskraft des JohEv im Umgang mit Prätexten wird durchgehend sehr hoch veranschlagt, wobei die Intertextualitätsforschung den Blick weg von der reinen Autorintention hin zu vielschichtigen, sich im Akt des Lesens und Hörens erst konstituierenden Beziehungen lenkt. Im Rahmen dieser Fragestellung bewegt sich auch ZbynÇek Studenovsky (517–558). Zweck der Bezüge des JohEv zu den Synoptikern sei nicht deren Verdrängung, sondern umgekehrt gerade die »Anschlussfähigkeit« an diese (543). Thomas Popp (559– 592) listet Textphänomene von »Repetition, Variation und Amplifikation im vierten Evangelium am Beispiel von Johannes 6,60–71« auf. Die Frage nach Querverbindungen zwischen johanneischem und paulinischem Denken wird von Christina Hoegen-Rohls (593–612) forschungsgeschichtlich aufgerollt.
Besonders hervorzuheben erlaubt sich der Rezensent
Ulrich Heckel, »Die Einheit der Kirche im Johannesevangelium und im Epheserbrief« (613–640), eine subtile vergleichende Ekklesiologie, die in Bereiche von großer ökumenischer Relevanz vorstößt und dazu weiterführende Textbeobachtungen einbringt. Es wäre schade, wenn dieser Aufsatz nicht auch in der Ökumenediskussion rezipiert würde. Enno Edzard Popkes (641–674) untersucht das Verhältnis zwischen Joh 8,12 und Ev.Thom. 77,1. Titus Nagel (675–693) vertieft die auch früher schon geäußerte These, das in mehreren Fassungen bekannte Apokryphon Johannis verstehe sich als »gnostische Zusatzoffenbarung« zum 4. Evangelium, wobei die gnostische Tradition in der Redaktionsgeschichte von ApokrJoh. (sekundäre Entstehung der Langfassung) zunehmend »johannisiert« worden sei. Bernhard Mutschler (695–742) verteidigt die Aussagen des Irenäus zu Joh und sieht in ihnen eine »offizielle kleinasiatische Lehrtradition« (723), auch wenn hinter ihnen eine Verwechslung mehrerer Personen stehe (736 f.). Das kontroverstheologische Anliegen des Irenäus wird von Mutschler zwar gesehen, aber nach Auffassung des Rezensenten in seiner erkenntnisleitenden Funktion verharmlost (vgl. dagegen vorläufig ZNW 91, 2000, 212– 229).

Überblickt man den Band als Ganzes, so stehen im nachbultmannschen Zeitalter Themen der Intertextualität (Altes Testament und Synoptiker) im Mittelpunkt. Die johanneische Forschung ist in Bewegung und muss sich in jedem Fall davor hüten, eine Frage schon deshalb für »ausgemacht« zu halten, weil sich eine Mehrheitsmeinung abzeichnet. Dies scheint dem Rezensenten etwa für die These einer durchgehenden Benutzung der Synoptiker (oder zumindest des Mk) zu gelten, die auch Hartwig Thyen seinem neuen Kommentar (Tübingen 2005) zu Grunde legt. Die Intertextualitätsforschung – an der sich methodisch viele Beiträge orientieren – steht gelegentlich in Gefahr, die Deutungshoheit über den Text dem Autor zu nehmen und letztlich – rezeptionsästhetisch nur wenig abgefedert – dem Exegeten bzw. der Exegetin zu überschreiben. Insbesondere scheint mehr Aufmerksamkeit gegenüber Falsifikationskriterien erforderlich. Welche Textbeobachtungen würden z. B. eine Abhängigkeit von Joh 21 von Lk 5 widerlegen? Die Intertextualitätsforschung muss sich m. E., will sie ihre wissenschaftliche Solidität bewahren, sehr viel stärker auch mit Falsifikationsfragen beschäftigen, sonst wird eine vermutete Abhängigkeit eines Textes A von einem Text B nicht mehr widerlegbar, wenn die Texte Stoff gemeinsam haben (der wissenschaftliche Diskurs wäre dann verlassen). Auch die Frage nach der Autorintention – in der Intertextualitätsforschung vergleichgültigt – ist sicher nur noch eine von vielen Fragen an einen Text, aber sie bewahrt diesen vor Vereinnahmung durch das exegetische Eigeninteresse. Es ist lehrreich, sich einmal zu fragen, was für uns (in Exegese und Kirche) eigentlich an einer Sicht des JohEv als einer harmonischen Vertiefung der Synoptiker hängt.
Was fehlt noch im Sinne einer Sichtung möglicher Kontexte des JohEv? U. a. fehlt eine Analyse der Hermetica. In ihrer Stilisierung als Offenbarungsdialoge mit langen situationsgelösten meditativen Passagen, ihrer wuchtigen Elementarisierung religiöser Sprache, ihrer Vorliebe für Oppositionen, binäre Wortpaare, symbolische Leitmetaphern, die zu Bildreden ausgebaut werden können, für extreme Lexemrekurrenz und kerygmatische Spitzensätze, in ihrem ganzen vertiefend-pneumatischen Um gang mit einem religiösen Traditum stellen die hermetischen Schriften eine geistige und imaginative Leistung dar, die der geistigen Arbeit hinter dem JohEv auf das Erstaunlichste gleicht. Es geht hier nicht um »Einflüsse« (diese sind eher un wahrscheinlich), sondern um ein Verständnis für das JohEv als Sprachereignis im Kontext der Dynamiken antiker religiöser Redeformen. In »Kontexte des Johannesevangeliums« werden sie nur zweimal erwähnt (189 u. 205), das zweite Mal mit der unzutreffenden Auskunft, dass sie Joh zeitlich ferner stünden als die jüdischen Pseudepigraphen. Das lässt sich schon angesichts der Papyrusfunde hermetischer Texte, die bis in die augusteische Zeit zurück reichen, nicht aufrecht erhalten (Pap. Berol. 21243; vgl. das Zeugnis des Antiochos von Athen über Hermetica im 1. vorchristlichen Jh. CCAG 8, 3 S. 116, 10 sowie das des Pamphilus Grammaticus aus dem 1. Jh. n. Chr., gegen den Galen 11, 797 f. ed. Kühn polemisiert, usw.). Bereits Ende des 2. Jh.s existiert ein Corpus numerierter hermetischer Traktate (Pap. graec. Vindob. 29456 recto und 29828 recto). Die in theologischer Außenperspektive ehemals übliche Trennung philosophischer und esoterisch-magischer Hermetica ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Hinzu kommen Erkenntnisse über die demotische Vorgeschichte des hermetischen Gedankengutes (einschließlich demotischer Textneufunde, die uns den Kanon 42 hermetischer Schriften, den Clemens Alexandrinus beschreibt, inhaltlich deutlicher profilieren) und die zumindest in CH 1 auf der Hand liegenden jüdischen Einflüsse, die nach der Vernichtung des ägyptischen Judentums im 2. Jh. kaum mehr denkbar sind (die These christlicher Anteile hat sich nicht durchsetzen können). Wir haben in vielen dieser Texte eine geistige Welt vor uns, die in ihrem innovativen Umgang mit einem vorgegebenen Traditum, ihrer soteriologischen Struktur und auch in manchen sprachlichen Besonderheiten eine Parallelleistung zum johanneischen Christentum darstellt. Ihre Erforschung hält m. E. noch viele Überraschungen bereit. Sie würde eine besondere Bedeutung gewinnen, wenn sich die hier nicht diskutierte These eines ägyptischen Ursprungs des JohEv, für die mir sehr viel zu sprechen scheint, bewahrheiten sollte.
Auch sonst bleibt noch viel Arbeit. Wenn man wie U. Schnelle das JohEv geschichtshermeneutisch als identitätsstiftende »Meistererzählung« qualifiziert (75), muss man sich in einem gegenwärtigen Fragehorizont mit J.-F. Lyotards These vom »Ende der großen Erzählung« auseinander setzen. Dies steht der Evangelienforschung erst noch bevor. Es gehört zur Eigenart der »johanneischen Frage«, dass sie von keiner Forschergeneration erschöpft wird – worin sich doch wohl die besondere Größe des Textes spiegelt. Der Band ist ein gewichtiges Stück johanneischer Forschung und darf auf weite Beachtung in allen Bereichen der Arbeit an den frühchristlichen Evangelien rechnen.