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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1313–1316

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sasse, Markus

Titel/Untertitel:

Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels. Historische Ereignisse – Archäologie – Sozialgeschichte – Religions- und Geistesgeschichte.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. XIV, 378 S. m. Abb. 8°. Kart. € 24,90. ISBN 3-7887-1999-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Vor dem Hintergrund der streckenweise äußerst unbefriedigenden Quellenlage die Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels umfassend zu behandeln, ohne dabei Gefahr zu laufen, eine bloße Nacherzählung der Quellen bzw. »Josephus mit Fußnoten« zu produzieren, ist ein überaus schwieriges Unterfangen. Im Bewusstsein dieser methodischen Problematik will S. in seiner Darstellung der politischen Geschichte des palästinischen Judentums von der Perserzeit bis zur Tempelzerstörung 70 n. Chr. neben den literarischen Quellentexten auch die Erkenntnisse und Ergebnisse der biblischen Archäologie berücksichtigen, um auf dieser Grundlage die wesentlichen politischen, kulturellen und religiösen Entwicklungslinien der untersuchten Epoche in der Geschichte Israels nachzuzeichnen (VIII).
Das Buch beginnt mit einem ausführlichen Rückblick auf das Ende des Staates Juda und die Zeit des babylonischen Exils (1– 33). S. thematisiert im 1. Kapitel die unterschiedliche Ausprägung und Entwicklung jüdischer Identität in den verschiedenen Siedlungsräumen, die Kontinuität zwischen dem »vorexilischen Volk Gottes Israel« und dem sich formierenden Judentum, die Differenz zwischen offizieller Religion und per sön licher Frömmigkeit, die kulturellen Veränderungen in Jerusalem und die Entwicklungen innerhalb der babylonischen Exilsgemeinde. Daneben kommen die theologischen Reaktionen so wohl auf die Katastrophe von 587 v. Chr. als auch auf den andauernden Assimilationsdruck während der Exilszeit zur Sprache.
Die Darstellung der Zeit unter persischer Herrschaft im 2.Ka pitel (34–71) setzt ein mit einer Beschreibung der Politik des Perserkönigs Kyros II. und seines religionspolitischen Programms. S. spricht sich dafür aus, dem im Zusammenhang mit dem antiken Herrscher anachronistischen Begriff »Toleranz« den Begriff »Akkulturationsbereitschaft« gegenüber den von ihm unterworfenen Völkern vorzuziehen (42). S. geht auf die Rück kehr der Exulanten und auf die Neuerrichtung des Tempels, auf die Verfassung der persischen Provinz Jehud, auf die (durchaus heftig diskutierte, von S. kritiklos befürwortete) Hypothese der so genannten »Reichsautorisation« der Tora und auf kulturelle Einflüsse von außen und Abgrenzungsmaßnahmen nach außen ein. Eine knappe Erwähnung erfährt die Situation in der (babylonischen und ägyptischen) Diaspora während der Perserzeit.
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse archäologischer Forschung stellt S. in Kapitel 3 (72–92) die Eroberung Palästinas durch Alexander d. Gr. dar. Diskutiert werden dabei Alexanders (legendarischer) Besuch in Jerusalem und die Entstehung der samaritanischen Religionsgemeinschaft als einer »Sondergruppe des Judentums« (91).
In Kapitel 4 (Unter ptolemäischer Herrschaft; 93–114) geht es um die Entstehung der Diadochenreiche und um die Stellung Palästinas unter den Ptolemäern, insbesondere um die Verfassung der Hyparchie Judäa. S. warnt davor, den allgemeinen Hellenisierungsgrad während dieser Epoche zu überschätzen (107); die eigene – »orientalische« – Kultur innerhalb des jüdischen Tempelstaates sei unbeschadet ihrer Neuinterpretation in griechischen Kategorien dominant geblieben. Eigens Erwähnung er fährt die Septuaginta, wobei S. zwar einerseits anmerkt, die Übersetzung der Tora ins Griechische sei von Ptolemaios II. »zur Klärung der Rechtsgrundlage« des jüdischen Bevölkerungsanteils innerhalb seines Reiches angeordnet worden (111), andererseits aber schreibt, die unzureichenden Hebräischkenntnisse der in der Diaspora lebenden Juden hätten eine griechische Übersetzung des Pentateuchs als »des vornehmsten Teils der hebräischen Bibel« erforderlich gemacht (112).
Das ausführliche 5. Kapitel (115–196) behandelt die Epoche der instabilen seleukidischen Herrschaft in Palästina, für deren allmählichen Untergang S. auch das Emanzipationsstreben der nichtgriechischen Bevölkerungsgruppen verantwortlich macht (121). Zu Darstellung gelangen zunächst die (fast ein Jahrhundert andauernden) kriegerischen Auseinandersetzungen um die strategisch bedeutende syropalästinische Landbrücke, der Streit zwischen den verschiedenen Interessengruppen in Jerusalem, die von Antiochos III. gewährten (bzw. erneuerten) religiösen und politischen Privilegien für Judäa und der Konflikt des Se leukidenherrschers mit Rom. S. unterbricht an dieser Stelle die Darstellung der historischen Vorgänge und Ereignisse und fragt nach den typischen Merkmalen der »hellenistischen Herausforderung« (138). Mit G. Theißen und A. Merz unterscheidet er vier verschiedene Phasen der Hellenisierung Palästinas. Knapp beschrieben werden Schulen und Richtungen der hellenistischen Philosophie sowie Kennzeichen hellenistischer Religion. Hinsichtlich des Verhältnisses von Judentum und Hellenismus differenziert S. zwischen religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten. Als »kulturelle Indikatoren« für den Hellenisierungsgrad einer Siedlung bestimmt er Begräbnisriten, Ritualbäder und Steingefäße (163 f.). Das Kapitel fährt fort mit der Darstellung des Makkabäeraufstandes und seiner Vorgeschichte von der »Heliodor-Affäre« bis zum Tod des Judas Makkabäus. S. merkt an, dass es bei allen von Antiochos IV. veranlassten religiösen Zwangsmaßnahmen »um die Aufhebung jüdischer Ab grenzungsstrategien« gegangen sei (181).
Kapitel 6 (197–230) berichtet vom Aufstieg der Brüder des Judas und vom Untergang des Seleukidenreiches. Exkurse behandeln die Entstehung der »Gemeinde von Qumran«, die Pharisäer, die Sadduzäer und das Nabatäerreich. S. hält fest, dass Johannes Hyrkanos die jüdische Religion »als die einende Ideologie, der sich alle Einwohner des Landes zu unterwerfen hatten«, instrumentalisiert habe (208). Großer Raum wird der Beschreibung der Entstehung und Bedeutung des Synagogeninstituts eingeräumt.
In Kapitel 7 (231–244) geht es um die Zeit unter römischer Vorherrschaft vom Ende des Hasmonäerstaates bis zum Beginn des Aufstiegs Herodes d. Gr. S. geht auf die Neuordnung Palästinas durch Pompeius ein, thematisiert die politischen Veränderungen in Judäa nach dem Ende des römischen Bürgerkriegs und beschreibt kurz die Verhältnisse in den verschiedenen Dias porazentren.
Leben und Werk des Herodes d. Gr. sind Thema des 8. Kapitels (245–279). Nachgezeichnet werden sein Weg zur Macht, seine problematische Position im Konflikt zwischen Octavian und Marcus Antonius, die Sicherung seiner Macht nach innen und außen und – in ganz besonderer Ausführlichkeit – seine Bauprojekte. Das kurze Kapitel 9 (280–290) ist den Söhnen des Herodes gewidmet.
Kapitel 10 (291–306) behandelt die Geschichte der römischen Provinz Judäa bis zum Jüdischen Krieg. S. diskutiert die Identität der »vierten Philosophenschule« im Judentum, be schreibt die Amtsführung des Pontius Pilatus, die so genannte »Caligula-Krise«, das Zwischenspiel der Herrschaft des AgrippaI. sowie die Ereignisse während der folgenden Jahrzehnte, in denen ganz Palästina unter römischer Verwaltung stand.
An die Darstellung von Vorgeschichte und Verlauf des Jüdischen Krieges in Kapitel 11 (307–321) schließt sich ein Abschnitt »Josephus und seine theologische Reaktion auf das Ende des jüdischen Aufstands« an, in dem allerdings kein Wort über eine theologische Reaktion fällt. Als abschließender Ausblick werden in Kapitel 12 (322–324) die Folgen des Jüdischen Krieges, das Entstehen der rabbinischen Bewegung und der Hadrianische Krieg, insbesondere der Aufstand des Bar Kochba, angesprochen. Beigegeben ist ein Literaturverzeichnis (335–378). Verzeichnisse der Stellen, Sachen, Orte und Namen fehlen.
S. bietet in der vorliegenden Geschichte der palästinischen Juden in der Zeit des Zweiten Tempels einen ausführlichen und informativen Überblick über die dargestellte Epoche; dabei hat er auch zahlreiche Sachverhalte und Einzelbeobachtungen zu sammengestellt, die in der Literatur zuvor nur sehr verstreut zu finden waren. Insbesondere der Versuch einer intensiven Verknüpfung der Archäologie mit der textwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft führt mitunter zu einer Neubewertung der literarischen Quellen. Unterschiedliche Positionen in der Forschung werden durchweg angesprochen, allerdings zumeist nicht diskutiert.

Kritische Anmerkungen betreffen eine Reihe von problematischen Punkten in der Darstellung: Die Behauptung, dass Texte der hebräischen Bibel »vom rabbinischen Judentum um 100 n. Chr. kanonisiert wurden« (113), wird durch die Quellen nicht bestätigt. Die Chronikbücher stehen in den hebräischen Bibelhandschriften nicht durchweg an letzter Stelle (160). Im Cod. Leningradensis stehen sie beispielsweise an erster Stelle der Hagiographen (die Biblia Hebraica Stuttgartensia von 1977 weicht hier von ihrer Textvorlage ab). Die Frage, ob sich die Auseinandersetzung des antiken Judentums mit dem Hellenismus »schon im biblischen Kanon« findet (160), halte ich für einen Anachronismus. In Bezug auf die Entstehung der Qumrangemeinschaft (201 f.) erwartet der Leser mehr als einen skizzenhaften Überblick über die verschiedenen Forschungshypothesen. Zu prüfen wäre, ob die »Frage nach der Macht des Schicksals« (212) tatsächlich zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen diskutiert wurde oder ob Antiquitates 13,171–173 nicht doch eher die Perspektive des antiken jüdischen Geschichtsschreibers Josephus und seiner gebildeten römischen Adressaten widerspiegelt. Als Statthalter der römischen Provinz amtierten zunächst Präfekten und erst seit Claudius Prokuratoren (291). Die sieben Middot Hillels sind nicht von Hillel erfunden (325), sondern eine ihm von der Tradition zugeschriebene Zusammenstellung von geläufigen Hauptarten des Beweisverfahrens. Die Bezeichnung Schammais als »Widersacher« Hillels (325) ist ahistorisch. Da die hillelitische Lehrtradition sich im rabbinischen Judentum durchsetzte, wurden die Schammai zugeschriebenen Traditionen fast nur noch in klischeehafter Weise als Kontrast dazu überliefert. Durchaus nicht gesichert sind die Existenz einer »förmlichen Ordination« eines rabbinischen Gelehrten (327) und des rabbinischen Konzeptes der »mündlichen Tora« (330) bereits im ausgehenden 1.Jh. n. Chr. Fragen von Opferkult und Tempel waren meines Erachtens nicht nur von »akademischem Interesse« für die Tannaiten (327), sondern standen in Zusammenhang mit aktuellen Hoffnungen und Endzeiterwartungen. Ärgerlich sind Mängel in der Rechtschreibung (z. B. 166.205. 262.299.303) und die vielen Druckfehler, die sich besonders bei weniger geläufigen Wörtern häufen und deren Zahl weit über das tolerierbare Maß hinausgeht. In Kapitel 7 begegnet durchgängig eine falsche Kopfzeile.

Insgesamt ist der brauchbare Band durchaus mit Gewinn zu lesen. Ein Blick in die bisherigen Standardwerke zur Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels (z. B. Schürer-Vermes-Millar; Maier, Schäfer, Smallwood, Grabbe) wird jedoch auch weiterhin unverzichtbar bleiben.