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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1311–1313

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Loretz, Oswald

Titel/Untertitel:

Götter – Ahnen – Könige als gerechte Richter. Der »Rechtsfall« des Menschen vor Gott nach altorientalischen und biblischen Texten.

Verlag:

Münster: Ugarit-Verlag 2003. XXII, 932 S. gr.8° = Alter Orient und Altes Testament, 290. Lw. € 128,00. ISBN 3-934628-18-4.

Rezensent:

Sebastian Grätz

Der von O. Loretz vorgelegte Band enthält ausführliche Untersuchungen zu dem Themenkreis »Recht und Gerechtigkeit« im Alten Testament und seinem altsyrisch-kannaanäischen Umfeld. Auf knapp 800 Seiten wird das Thema in fünf voneinander relativ unabhängigen Hauptteilen bearbeitet. Nach den drei im Titel bezeichneten Gruppen, deren jeweiliger Funktion als »gerechte Richter« jeweils ein Hauptteil gewidmet ist, folgen ein vierter Teil mit dem Titel »Spezielle westsemitische Rechtsmaterie und amurritisch-kanaanäische Traditionen« und ein längerer fünfter Teil »Allgemeine Probleme des Rechts und der Gerechtigkeit«.
Die Arbeit kann hier nicht detailliert besprochen werden. Hinter dem Buch selbst steht ein knappes Jahrzehnt Arbeit an einem zentralen Thema biblischer und altorientalischer Theologie, hinter seinem gesamten Inhalt jedoch viel mehr: die Summe einer jahrzehntelangen Beschäftigung L.s mit dem Alten Testament und dem Alten Orient, besonders der ugaritischen Literatur, sowie wichtigen systematisch-theologischen Fragestellungen. Gerade wegen dieses letztgenannten Anliegens von L. ist das Buch trotz zahlreicher sehr detaillierter Einzeluntersuchungen nicht nur ein Werk für Spezialisten. So bieten die einzelnen Teile weiterführende Reflexionen, wie z. B. das dritte Kapitel des ersten Teiles, das mit »Die judenchristlich-paulinische Rechtfertigungslehre aus der Perspektive altorientalisch-alttestamentlicher forensischer Terminologie« überschrieben ist. L. zieht eine Linie von den Anfängen schriftlich niedergelegter altorientalischer Rechtskultur hin zur paulinischen Rechtfertigungslehre. Paulus nehme eine judenchristliche Überlieferung in seine Rechtfertigungslehre auf, die wiederum in der israelitisch-jüdischen sowie auch altorientalischen Tradition des »Rechtsfalls«, also des Prozessverfahrens des Menschen vor Gott gründe. Die überlieferten juridischen Vorstellungen und Leitbilder stelle Paulus mit seinen Aussagen zum bedingten Freispruch aller Schuldigen durch den göttlichen Richter »auf den Kopf«, wodurch auch der Begriff der richterlichen »Gerechtigkeit Gottes« neu gefüllt werde (vgl. 85–134). Im Fortgang des Kapitels wird eine nun nahe liegende Frage erörtert: Gibt es eine Vorform der paulinischen Rechtfertigungslehre bereits in älterer Literatur als dem Alten Testament? Anhand von Dtn 9,4–6 un tersucht L. die diese Verse bestimmende Terminologie um .sdqh und yÇsr (»Gerechtigkeit«, »Geradheit«) vor dem Hintergrund alttestamentlicher und ugaritischer Belege und kommt zu dem negativen Ergebnis, dass in Dtn 9,5 u. ö. nicht das (forensische) Verhältnis des Menschen zu Gott im Blick sei, sondern in erster Linie die Pflicht Israels, das Gesetz zu halten (vgl. 135–153). Der erste große Abschnitt des Buches wird durch zwei Kapitel, die sich wiederum zentralen Fragen der alttestamentlichen Forschung widmen, beschlossen. Zunächst vermutet L. bezüglich des »Stimmungsumschwungs« in den »Klageliedern des Einzelnen« einen forensischen Hintergrund, der jedoch nur sehr knapp erläutert wird (vor allem 169–176), dann interpretiert er das Problem des »leidenden Gerechten« in einem literarkritisch zu erhebenden ältesten Hiobbuch vor dessen altorientalischem Hintergrund anhand einschlägiger Texte als »Rechtsfall vor Gott«. Diese Sichtweise wiederum lenkt auf die den ersten Teil des Buches beherrschende Fragestellung nach der göttlichen Gerechtigkeit zurück (besonders 206–210).
Der zweite Hauptteil des Buches fragt nach den motivischen Beziehungen zwischen den verstorbenen Königen von Ugarit und dem amurritischen Heroen Dit¯anu, die L. in dessen Status als »Richter« und »Heiler« (rpu) sieht. Er versteht die ugaritischen rpum als königliche Ahnen und »Heiler«, die auch in der biblischen Tradition (z. B. Jes 14,9; 26,14; Ps 88,11) ein umgestaltetes Fortleben als »Lahme, Schlaffe« (mass. Text) geführt hätten. Die Umgestaltung erfolgte »… spät und aus leicht einsehbaren dogmatischen Gründen« (229, vgl. 271). L. kann sich für diese Interpretation im Fall von Jes 26,14; Ps 88,11 auf die Septuaginta (»Ärzte«) stützen (s. zu Ps 88,11 und der Frage nach der Auferstehung der Toten 273 ff.). Zu den Reph¯a’îm, der dtr. Bezeichnung für die Urbevölkerung Palästinas, vermutet L. Nämliches (259–266).
Im dritten Hauptteil, der dem königlichen Richteramt ge widmet ist, wendet sich L. zunächst dem historischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund der prophetischen Sozialkritik zu. In seinen Augen ist die prophetische Sozialkritik vor rangig ein Phänomen der nachexilischen Entstehung von Prophetenbüchern. Denn die auch andernorts im Alten Orient (Ugarit: KTU 1.16 VI; Mari: A.1121 + A.2731; A.1968) belegte Forderung nach »Recht und Gerechtigkeit« ist stets an den König gewandt, der in zahlreichen alttestamentlichen Passagen der prophetischen Sozialkritik aber nicht (mehr) vorkomme (347). Die Sozialkritik gehöre damit in erster Linie in den Bereich der dtr. Geschichtssicht. Darüber hinaus sei sie keine Entdeckung israelitischer/judäischer Prophetie, sondern Erbgut altorientalischer und besonders amurritisch-kanaanäischer Tradition. Danach untersucht L. ausführlich Ps 72, den er insgesamt für anthologisch und nachexilisch hält (429–435) und der (amurritisch-kanaanäische) »Topoi … der älteren Psalmdichtung über den gerechten König« verarbeite (434).
Der vierte Hauptteil enthält drei einzelne Studien.

In der ersten geht es um die Verwerflichkeit eines in Eile abgelegten Gelübdes mit der Referenzstelle Koh 4,17–5,6. L. sieht einen ursprünglichen Kern in dem poetischen Passus Koh 5,3a.4, der dann erweitert wurde (449–453). Die hier verarbeitete Tradition sei sicher kanaanäischer Herkunft wie der babylonisch-hurritische Text RS 15.10 zeige (455 ff.). Die zweite Studie bietet in einem Hauptpunkt eine Auseinandersetzung mit Thesen E. Ottos zu Dtn 13; 28 (s. hierzu 465–471). Der dritte Beitrag schließlich wendet sich dem Thema der »Schwarzen Magie« des Tages zu. Ausgangsort ist hier der Vers Hi 3,8, den L. in engstem inhaltlichen und literarischen Zusammenhang mit Hi 3,3.7 sieht (478 ff.). Gegen die Deutung, in Hi 3,8 ym »Meer« zu lesen, entscheidet sich L. für den mass. Text, der ywm »Tag« bietet. So handle die Klage vom ungünstigen Tag der Geburt, der auch in Mesopotamien und Ugarit (KTU 1.6 VI) in Form des »Schwarzen Tages« seine Parallelen habe (489 ff.).

Der sehr umfängliche und allgemeine fünfte Hauptteil ist wiederum in acht Kapitel gegliedert, die unterschiedliche Themen behandeln.

In den beiden ersten Kapiteln geht es um das Problem der Unsterblichkeit, einmal um diejenige des Königs und des Menschen, dann um das »Geheimnis der ›unsterblichen Gerechtigkeit‹« in Sap 1,15 und Ps 73. Ich skizziere hier nur den ersten Punkt. Im Anschluss an den zweiten Hauptteil, in dem es bereits kurz um das postmortale Fortleben ging (s. o.), untersucht L. das Thema des ewigen Lebens anhand der ugaritischen Epen von Danil-Aqhat (KTU 1.17 VI 25b–38) und Keret (KTU 1.16 I 2–23, II 33b–49). Das Ergebnis zeigt die Differenzen zwischen Gott und Mensch/ König: »Während im Keret-Epos das Leben des Königs und des Menschen mit dem Els verglichen werden, stellt das Aqhat-Epos zwischen dem vom landwirtschaftlichen Jahreszyklus bestimmten Schicksal Baals und dem des Königs eine Verbindung her … Baal ist aber ein Gott, der einem jährlich sich ereignenden Tod unterworfen ist.« (593) Ein ewiges, göttliches Leben oder ein Leben ohne Tod gebe es daher für den Menschen nach altsyrisch-kanaanäischer Anschauung nicht. Das dritte Kapitel bietet eine philologische Untersuchung zu ugaritisch-hebräisch t-/Çsp.t, das nach Maßgabe des Ugaritischen und der altorientalischen Tradition in erster Linie mit »richten« zu übersetzen sei (646–659). Im folgenden, sehr kurzen vierten Kapitel untersucht L. die Wurzel sÇp.t in Ex 18,13–15, im fünften wendet er sich wiederum einer vorrangig philologischen Frage zu: »Hebräisch .sdq/.sdqh ›Gerechtigkeit‹ oder ›Gemeinschaftstreue‹?« Diese Frage beantwortet L. im Sinne der ersten Alternative und gegen die Deutung als »konnektive Gerechtigkeit«, da das alttestamentliche Verständnis von »Gerechtigkeit« – wie in der mesopotamischen sowie der altsyrisch-kanaanäischen Vorstellung – vor allem das Eingreifen der Götter in das menschliche Leben als Prozessverfahren begreife, in dem der Mensch von der Gottheit ein gerechtes Urteil, Gerechtigkeit erwarte (687). Das sechste Kapitel nimmt wiederum eine Frage auf, die bereits im ersten Kapitel des fünften Teils angesprochen wurde: das Thema der Göttlichkeit der altorien talischen Könige (und deren postmortaler Existenz, 708 ff.). Im siebenten Kapitel wird der Zusammenhang der biblischen Menschenschöpfung sowie der damit verbundenen conditio humana mit der (außerbiblischen) Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte anhand von Ps 8 und Gen 1,26 f. und ihrem altorientalischen Hintergrund untersucht. Das Liebesgebot Lev 19,18 »Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du!« trage der geschöpflichen Ebenbürtigkeit aller Menschen Rechnung (762–765). Das achte Kapitel schließlich interpretiert Ps 33 im Lichte griechischen Gedankenguts: Die Kombination der altorientalischen semitischen Thematik von »gerade, gerecht« (yÇsr), »Gerechtigkeit und Recht« (.sdqh w mÇsp.t) und »Gnade/Huld« (.hsd) in V. 4–5 [von Ps 33] mit der neuen singulären Rede vom welterschaffenden und weltbeherrschenden dbr YHWH (»Jahwe-Wort«) ist nach L. in die Nähe stoischen Gedankenguts zu stellen (782 f.). Ein »Epilog und Ausblick« sowie ein Nachtrag: »Paolo Prodi. Eine Geschichte der Gerechtigkeit« beschließen den inhaltlichen Teil des Buches.

Dieser knappe Durchgang zeigt, dass mannigfache Themen um den Bereich des biblischen und altorientalischen Rechtsverständnisses und darüber hinaus angesprochen und untersucht worden sind, die, wie bereits eingangs angedeutet, z. T. nur recht lose zusammenhängen. Es ist deshalb L. zu danken, dass er die Arbeit mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und Registerteil versehen hat. Einleitungen und Zusammenfassungen erleichtern darüber hinaus die Lektüre erheblich. Wer sich in Zukunft gründlich mit dem Themenkreis »Recht und Gerechtigkeit« in biblischen und altorientalistischen Studien beschäftigen möchte, wird kaum um das Buch herumkommen.