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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1302–1305

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

McGinn, Bernard, Collins, John J., and Stephen Stein [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Continuum History of Apocalypticism.

Verlag:

New York-London: Continuum 2003. XVI, 672 S. gr.8°. Lw. US$ 75,00. ISBN 0-8264-1520-2.

Rezensent:

Martin Karrer

Der Band bietet einen vorzüglichen Auszug aus der dreibändigen Encyclopedia of Apocalypticism, die vor wenigen Jahren den Stand der Diskussion über die Apokalyptik zusammenfasste (Continuum, 1998). Verkennen wir freilich nicht: Eine Enzyklopädie summiert nicht nur Kenntnisse, sie trifft auch Entscheidungen, am wichtigsten sind dabei die über Definition und Umfang des Gegenstandes.
Beides war, was unseren Bereich angeht, in den 70er/80er Jahren des letzten Jh.s heftig umstritten. Damals wurde bewusst, dass die griechische Selbstbezeichnung »apokalypsis« nach der neutestamentlichen Apk in einer Vielzahl von Texten erscheint, die sich keineswegs durchgängig auf endzeitliche Geschehnisse konzentrieren (Nag Hammadi-Apokalypsen usw.). Die Religionsgeschichte aber hatte sich im 19. Jh., wiederum geprägt durch die Apk (s. die Weichenstellung bei F. Lücke 1832), auf eine spezifische, dualistische Sicht drängender Enderwartung festgelegt, die zahlreiche Texte entfalteten, ohne sich »Apokalypse« zu nennen (namentlich fehlt die Selbstbezeichnung als »Apokalypse« allen Texten vor der Apk). Gewiss verband der Schlüsseltext Apk die Linien. Doch genügte das, um den Begriff zu bestimmen? Eine Ausweitung der Quellen (auf Töpferorakel, griechisch-römische Schriften, Nag Hammadi-Texte etc.) drängte sich auf. Der Versuch, Apokalypse/Apo kalyptik auf einem internationalen Kolloquium unter Berücksichtigung dessen einhellig zu definieren, scheiterte allerdings (Apocalypticism-Kongress von Uppsala 1979; ed. D. Hellhom, Tübingen 1983). Die im 19. Jh. entstandene Verbindung der Gattung »Apokalypse« und der Religionsgeschichte »apokalyptischer« Strömungen hätte mit guten Gründen zerbrechen können.
Die Mehrheit der Forschung wagte einen solch radikalen Einschnitt nicht. Folgen wir der »History«, so hat sich die Lage sogar völlig zu Gunsten der Forschungskontinuität beruhigt; d.h., das literarische Genre übernatürlicher Enthüllung und die religionsgeschichtliche Analyse von Enderwartungen sind gleichermaßen zu berücksichtigen (so die drei Herausgeber, IX). Gewiss gibt das den mainstream der Forschung wieder. Indessen beunruhigt, dass die Herausgeber die Brüchigkeit ihrer Entscheidung nicht markieren und die Forschungsgeschichte in Artikel über die Apokalyptik in der Moderne verweisen (zu Lücke etc. genügt dann ein kurzer Hinweis durch J. H. Moorhead, 478).
Die Konsequenzen sind vielfach zu spüren. So finden die Nag Hammadi-Texte (obwohl sich deren mehrere »Apokalypse« nennen), das Töpferorakel und griechisch-römische Quellen (einschließlich ihrer wirkungsgeschichtlich hochbedeutenden Gerichtsvorstellungen) in der »History« keine eigene Berücksichtigung (Letztere, obwohl sich ihr Einbezug schon wegen der Einflüsse iranischer Eschatologie auf Plutarch und der Wiedergabe der Hystaspes-Orakel bei Laktanz aufdrängen würde, die A. Hultgård [53–57] herausarbeitet). J. J. Collins, der sich sehr um die Definition der jüdischen literarischen Gattung bemühte (seit Uppsala 1979), muss in seinem Beitrag über die Apokalyptik Israels (64–88) die klassischen »apokalyptischen« Texte als »›historical‹ type apocalypse« präzisieren; dieser Typ (von Teilen der Henochliteratur über Dan bis 4Esr und 2Bar) geht, stellt er fest, im Judentum des 2. Jh.s nieder, während der Typus der Himmelsreise auflebt (3Hen etc.), jedoch nicht mehr zu verfolgen ist (84). Schließlich fragt die »History« von vornherein nicht nach fernöstlichen Äquivalenten, die religionsgeschichtlich bedeutsam sein könnten.
Die »History« nützt die Chance zur Konzentration, die so entsteht, und summiert speziell die Vorstellung von Apokalyptik, die sich als Ingredienz des Denkens im Allgemeinbewusstsein der »Western World« (wie die Herausgeber [X] konkretisieren) beheimatet hat. Wer eine materialreiche Skizze dieser apokalyptischen Hauptlinie sucht (und das Unbehagen über die genannten Unschärfen zurückstellt), wird reich belohnt:
Die Apokalyptik entstand demnach in der Antike (Teil 1; 3– 217). Ihre Wurzeln liegen in den dualistischen Mythen des Zweistromlandes (bes. in dessen »Combat-Myth«; R. J. Clifford, 3–29) und Persiens (Zoroastrismus etc.; A. Hultgård, 30– 63). Diese Mythen erlaubten verschiedene literarische Gattungen; das religionsgeschichtliche Phänomen geht der literarischen Kondensation voraus (und wird mit dieser Weichenstellung zur eigentlich tragenden Komponente der »History«).
Das Judentum nahm die Mythen auf und prägte nach zusätzlichen prophetischen Impulsen allmählich die literarische Gattung der Apokalypse mit Höhepunkten im Hellenismus (Dan, 1Hen) und der römischen Periode um 100 n. Chr. (4Esr, 2Bar; J. J. Collins, 64–88). Die Zeugnisse vom Toten Meer zeigen eine jüdisch-dualistische Strömung (wichtig ihre Reflexionen über den Ursprung des Bösen) und bereichern unsere Kenntnisse über jüdische Enderwartung und Suche nach Teilhabe an der himmlischen Welt. Sie machen jedoch wenig Gebrauch von der literarischen Gattung Apokalypse im durch Collins beschriebenen Sinn (F. García Martínez, 89–111). Die religionsgeschichtliche Strömung bleibt also breiter als die literarische. Das erlaubt nicht zuletzt Berührungen zum Messianismus (J. C. VanderKam, 112–138).
Der klassischen deutschen Forschung (J. Weiß; A. Schweitzer) nach war Jesus in die Apokalyptik einzuordnen. In der 2.Hälfte des 20. Jh.s wurde das vielfach heftig bestritten. Doch die »History« entscheidet sich, die klassische Sicht zu aktualisieren (D. C. Allison, 139–165). Im deutschsprachigen Raum könnte das noch knapp der Mehrheitsmeinung entsprechen. Allerdings fällt auf, dass jüngere deutsche Forschung für die Argumentation keine Rolle mehr spielt. Die englischsprachige Diskussion genügt sich in einer aktuellen Enzyklopädie.
Paulus bringt mit Naherwartung, Parusie-, Gerichts- und Auferstehungsvorstellungen wichtige Motive ins nachösterliche Christentum der Völker ein (M. C. de Boer, 166–194). Zwischen 70 und 100 greift ein marginalisiertes Christentum dann in der Apk auch zur Gattung Apokalypse. Deren Autor, ein Prophet, versucht, Glauben und Leben seiner Leserschaft durch harschen Dualismus und in eigentümlicher Poesie zu formen. Gattung und religionsgeschichtliche Traditionen dienen seiner Rhetorik – und nebenbei der Auseinandersetzung mit Konkurrenz, z. B. mit einer Frau, die sich als Prophetin verstand (2,20; dazu 209 f.). A. Yarbro Collins summiert diesen Forschungsstand (195–217; die durch T. Pippin 1992 forcierte gender-Debatte klingt aber nur von Ferne an).
Apokalyptische Strömungen durchzogen das Christentum daraufhin bis in die Neuzeit mit Einschnitten in der Spätantike (Augustin), den Kirchenreformbemühungen des Mittelalters (Jo achim etc.) und der Reformationszeit, wie Teil II darlegt (Beiträge von B. E. Daley, D. Olster, B. McGinn, G. Luca Po testà, R. Barnes, 221–353). Die Einschnitte sind indes nicht überzubewerten. Denn auch die byzantinische Ära kennt eine ganze Reihe apokalyptischer Texte, teils entstanden unter dem Eindruck der Völkerwanderung und der arabischen (musli mischen) Eroberung (Apokalypse des Pseudo-Methodius; Olster, 263–265). Das Mittelalter war durchgängig eschatologisch hochgespannt (was die verbreitete Auffassung, um das Jahr 1000 habe es besondere apokalyptische Intensität gegeben, fraglich macht; B. McGinn, 273). Reformation, Renaissance und Neuzeit endlich transformierten zwar viele Ideen (millenaristisch und utopisch), doch lässt sich von einer fortdauernden apokalyptischen Strömung nur sprechen, wenn sie breit genug als Beeinflussung der bestimmenden Denker durch die Vorstellung, in einer Krisen- oder Wandlungs-Zeit zu leben, gefasst wird (R. Barnes bezieht deshalb [347–349] die aufklärerische Fortschrittshoffnung ein).
Kapitel zur jüdischen Apokalyptik zwischen 670 und 1670 (M. Idel, 354–379; die messianischen Aufbrüche ab der Barock zeit und sogar Sabbatai Zwi fielen offenbar der Auswahl für die »History« zum Opfer) und zum klassischen Islam (S. Amir Ar jomand, 380–413, mit viel heute hochaktuellem Material zur Mahdi-Idee etc.) runden diesen Teil ab und sorgen für eine überaus wichtige Klärung des Horizonts: Die Enzyklopädie versteht die von ihr beschriebene Apokalyptik als ein westliches Phänomen, das tief mit den monotheistischen Religionen zu verbinden ist (vgl. IX). Entsprechend verfolgt S. Amir Arjomand (381 ff.) auch etwaige Einflüsse christlicher und jüdischer Quellen auf apokalyptische Verse im Koran.
Der Umbruch um 1800 (Auseinandersetzung mit aufklärerischer Geschichtslinearität, französischer Revolution und Napoleon) wird in mehreren Kapiteln gestreift (R. Barnes, 349 f., u. a.), verdiente indes eine eigene geschlossene Behandlung durch die »History«, weil sie mit ihm die jüngste Epoche, »Apocalypticism in the Modern Age«, beginnen lässt (Teil III; 415–648). Die »History« setzt nun Schwerpunkte auf die koloniale und postkoloniale Ära in (Nord- und Süd-)Amerika, die durch die dortigen millenaristischen, fundamentalistisch-biblischen und be freiungstheologischen Strömungen durchaus gerechtfertigt sind (A. Milhou, R. Smolinski, J. H. Moorhead, S. J. Stein, P.Boyer, R. M. Levine, 417–562); die Befreiungstheologie kommt allerdings zu kurz (nicht einmal E. Cardenal und seine berühmte Umdichtung der Apk finden Erwähnung). Weitere Kapitel gelten West- und Osteuropa (S. L. und P. F. Zimdars-Swartz, J. E. Clay, 607–648) sowie wiederum dem Judentum (A. Ravitzki behandelt messianische Impulse des 20. Jh.s komparativ, 563–581) und dem Islam (A. Amanat, 582–606; er geht noch auf die islamische Revolution im Iran bis 1990 ein). Wegen der Entwicklungen der letzten Jahre würde der Leser sich zusätzliche Hinweise zur islamischen Entwicklung zwischen 1990 und 2003 wünschen, aber die Herausgeber scheuten offenbar einen Nachtrag dazu.
Der Band wird durch Register gut erschlossen und enthält zu jedem der stets sehr solide erarbeiteten Kapitel eine gute Auswahl englischsprachiger Literatur (französische und deutsche Literatur sind, wie gesagt, unterrepräsentiert). Er eignet sich deshalb hervorragend als Nachschlagewerk. Trotzdem sei nochmals an die Grenze erinnert: Die »History« versteht Apokalyptik im Sinne des Forschungshauptstroms seit dem 19. Jh. und schreibt dieses Verständnis fest. Kritische Diskussion sollte sich dabei nicht beruhigen. Die in den 1970er/80er Jahren begonnene Debatte um die Vorentscheidungen – das Gewicht der Gattung »Apokalypse« und die sozialanthropologisch-kulturelle Tragweite der religionsgeschichtlichen Kategorie – verdient eine Erneuerung.