Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1300–1302

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. Ed. by W. Hanegraaff in collaboration with A. Faivre, R. van den Broek and J.-P. Brach. 2 Vols.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2005. XXX, 1228 S. 4°. Lw. € 289,00. ISBN 90-04-14187-1.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

In der Erforschung abendländischer Religionsgeschichte hat sich nur langsam die Erkenntnis durchgesetzt, dass neben kirchlichen Theologien und »volkstümlicher Religiosität« noch ein drittes Stratum religiöser Tradition zu bedenken ist. Dieses »dritte Stratum« abendländischer Religion erfährt im vorliegenden Werk eine umfassende Würdigung. »Gnosis« und »Esoterik« stehen dabei in einem weiten Sinn für große Bereiche alternativer Religion und Weltdeutung. Angesichts des vorwissenschaftlichen Ni veaus vieler Nachschlagewerke zur Esoterik hat der Rezensent das vorliegende Lexikon mit anfänglicher Zurückhaltung in die Hände genommen, die rasch tiefer Bewunderung gewichen ist. In souveräner Stoffbeherrschung, vornehmer Zurückhaltung des Urteils, exzellenter Dokumentation, bibliographischer Sorgfalt und Weite des Blickes hat es bisher zur Sache Vergleichbares nicht gegeben. Tatsächlich hat das Dictionary of Gnosis and Western Esotericism (DGWE) die Erforschung der esoterischen Traditionslinien auf ein neues Niveau gehoben, indem es das Erreichte sichtet und den Forschungsgegenstand in seiner inhaltlichen Peripherie erst eigentlich definiert.
Die Grundentscheidung, »Esoterik« als Fortsetzung von »Gnosis« zu verstehen, darf nicht traditionsgeschichtlich im Sinne einer Lehrkontinuität missverstanden werden. Die Kontinuität ist zwar gelegentlich auch inhaltlicher, vor allem aber religionssoziologischer Art. Wir haben es mit weithin intellektueller, von den Großkirchen jedoch marginalisierter Religiosität zu tun, deren Anbindung an das christliche Traditum nur locker und nicht selten gar nicht gegeben ist. Die zahlreichen Artikel zur klassischen Gnosis des 2. bis 4. Jh.s (und zum Neuplatonismus) sind von gediegener Sorgfalt (und im Schnitt deutlich umfangreicher als z. B. die vergleichbaren Beiträge in RGG, 4. Aufl.), bieten aber kaum Überraschungen (Autoren: R. van den Broek, W. A. Löhr, K. Rudolph u. a.). Umso innovativer sind die Beiträge zu den späteren esoterischen Traditionen des Abendlandes, wobei der zeitliche Rahmen bis fast in die unmittelbare Ge genwart führt. Lange Übersichtsartikel sind Themen wie »Alchemy«, »Astrology«, »Divinatory Arts«, »Illuminism«, »Jewish Influences«, »Macrohistory«, »Magic«, »Number Symbolism«, »Tradition« etc. gewidmet. Das DGWE verweigert sich erfreulicherweise dem Trend, ein Lexikon als auf leichte Lesbarkeit abgestimmte Essaysammlung zu gestalten: Alle Artikel sind auf Präzision und Dokumentation ausgerichtet; manche sind bedeutende Beiträge zur Forschung. »Hermes Trismegistus«, »Hermetic Literature« und »Hermetism« (R. van den Broek, P. Lucentini, V. Perrone Compagni u. a.) z. B. bieten mit über 161 Lexikonspalten die beste Gesamtdarstellung zu diesem Themenfeld, die gegenwärtig vorliegt.
Zahlreiche Personenartikel würdigen nicht nur bekannte Figuren der esoterischen Traditionslinien (J. V. Andreae, J. Boehme, G. Bruno, A. Court de Gébelin, Rudolf II, F. v. Baader u.a.), sondern daneben eine Fülle im deutschen Sprachraum kaum bekannter Persönlichkeiten etwa aus dem russischen, französischen und italienischen Bereich und auch Personen, an die man hier vielleicht nur beiläufig denken wird (T. Campanella, J. A. Comenius, Sir R. F. Burton etc.). Die internationale Weite des Blickes ist exemplarisch. Man wird – um es deutlich zu sagen – auch dankbar dafür sein, dass das DGWE nicht primär von amerikanischen Wissenschaftlern verantwortet wird, denen es erfahrungsgemäß oft schwer fällt, einen amerikozentrischen Blickwinkel zu vermeiden. Vielmehr sind es in erster Linie niederländische, belgische, französische und italienische Gelehrte, die am DGWE mitgearbeitet haben (insgesamt etwa 150).
An der geringen Zahl deutscher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dokumentiert sich leider, dass der deutsche Sprachraum in der Erforschung dieses Themenfeldes weit hinter anderen europäischen Ländern zurücksteht. Auch moderne Persönlichkeiten, vor allem aus dem Bereich der esoterischen Philosophie, werden gewürdigt (H. Corbin, G. C. Evola, R.Guénon, G. I. Gurdjieff, M. P. Hall), wobei zahlreiche dieser Personen überhaupt zum ersten Mal in einem akademischen Lexikon zur Darstellung kommen (M. Théon, A. E. Waite). Natürlich hätte man die Auswahl partiell auch anders treffen können (keine eigenen Artikel haben z. B. G. Gardner, G. Pickingill oder C. G. Leland).
Eine wichtige Sparte sind esoterische Dichterinnen und Dichter wie der Portugiese F. Pessoa oder der Engländer W. Blake (es fehlen z. B. A. Machen oder Ch. Williams). Auch Tiefproblematisches bleibt nicht unbehandelt (Ariosophen). Islamische Traditionen sind meist ausgespart, sofern sie nicht im Westen rezipiert wurden. Auch Jüdisches wird nur knapp behandelt (vgl. jedoch R. Leicht, J. Dan u. a., »Jewish Influences«), ebenso die Freimaurer, zu deren Geschichte und Symbolwelt eigene exzellente Lexika auf neuestem Stand in mehreren Sprachen vorliegen. Er freulicherweise mit eigenen Beiträgen gewürdigt sind esoterische und magische Orden wie die Hermetic Brotherhood of Luxor, der Ordo Templi Orientis oder die deutsche Fraternitas Saturni, auch solche mit unklarem Profil wie die Fedeli d’Amore. Nicht eigens behandelt werden symbolisch-unhistorische Gestalten wie »Fräulein Anna Sprengel«, Aradia, John King, Koot Hoomi u. a. theosophische »Meister« (auch nicht im Personenregister). Unter den reinen Sachartikeln sind nicht zuletzt solche hervorzuheben, die den Forschungsstand zur Geschichte der Magie dokumentieren (z.B. R. Kotansky, »Amulets«; G. F. Vescovini, »Magical Instruments«), vor allem der in den letzten Jahren intensiv beachteten und durch zahlreiche Texteditionen er schlos senen Renaissancemagie.
Allen Details wurde immense Sorgfalt zugewandt. Die makellosen Literaturverzeichnisse sind deshalb erwähnenswert, weil sie oft an keinerlei Vorarbeiten anknüpfen konnten und sich in Bereichen bewegen, die nur in wenigen Bibliotheken gesammelt werden. Das DGWE ist nicht nur thematisch eine Pionierleistung, sondern auch in Dokumentation und Materialsichtung. Der Rezensent hat den bibliographischen Nachweisen besondere Aufmerksamkeit gewidmet und könnte nur in wenigen Fällen auf Übersehenes hinweisen (zu dem bibliographisch notorisch komplizierten A. Crowley etwa fehlt die beste mir bekannte Zusammenstellung in: Red Flame. A Thelemic Re search Journal 4, 1997). Internetressourcen sind nur gelegentlich angegeben. Ein Personenregister und ein Verzeichnis der Gruppen und Organisationen runden das Werk ab (ein Sachregister fehlt). Die redaktionelle Betreuung war offenbar exzellent; die in Großlexika üblichen Blindverweise und Unausgeglichenheiten sind nicht zu beobachten. Der Verzicht auf jegliche Apologetik oder Überlegenheitsattitüde und die Sorgfalt der Wahrnehmung sind wegweisend für die religionswissenschaftliche Weiterarbeit. Theologische Würdigungen bietet das DGWE nicht, wohl aber zahlreiche Berichtigungen von Vor- und Fehlurteilen, die sich durch die kirchliche Esoterikkritik hindurchschleppen. Für ein kritisch-theologisches Gespräch mit den Traditionen der Esoterik ist jetzt besonders wertvoll (worauf hier ergänzend hingewiesen werden darf): H. Baer, H. Gasper, J. Müller u. J. Sinabell (Hrsg.), Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus, Freiburg: Herder 2005 (vgl. meine Rezension in ThRv).
Wie könnte die Forschung weitergehen? Neben dem (vor allem in Deutschland) noch in den Kinderschuhen steckenden Aufbau wissenschaftlicher Sammlungen sind monographische Einzelstudien und eine weitere Vernetzung der Forschung erforderlich. Eine ausführlich kommentierte Bibliographie wäre nützlich (gerade weil große Teile der Literatur nur in wenigen Bibliotheken vorhanden sind). Das DGWE behandelt Esoterik vor allem als gedankliches Produkt einzelner Persönlichkeiten. Was weiterer Bearbeitung harrt, sind die religionssoziologische Dimension und die Rezeptionsgeschichte innerhalb der »popular culture«. Eine Sicherung der Materialbasis sollte weiteren Theoriebildungen vorausgehen. Damit wird sowohl der Erforschung abendländischer Religionsgeschichte als auch der kritischen Würdigung der religiösen Landschaft der Moderne nachhaltig gedient sein. Dem vorliegenden »Etappenziel« des »Dictionary of Gnosis and Western Esotericism« wünscht der Rezensent von Herzen weiteste Verbreitung und Kenntnisnahme.