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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

341–344

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Kurt

Titel/Untertitel:

Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. XII, 783 S. u. 66 S. Register gr.8° = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 42. Lw. DM 425,­. ISBN 90-04-10625-1.

Rezensent:

Michael Lattke

Nachdem erst im Jahre 1992 ein erster Band mit 18 ausgewählten Aufsätzen von R. unter dem Titel Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft bei Brill erschien (Studies in the History of Religions [Numen Bookseries], vol. 53), legt der ehemalige Leipziger Gelehrte, dem zu seinem 65. Geburtstag am 3. 4. 1994 in seiner letzten Wirkungsstätte Marburg eine Festschrift zu Gnosisforschung und Religionsgeschichte überreicht wurde, nun eine ebenfalls in den Rahmen der Religionswissenschaft passende Sammlung von 40 Aufsätzen aus fast 40 Jahren vor, deren Reichtum ein separat gedrucktes Register von 66 Seiten zu erschließen versucht.

Die Beiträge stammen zum einen aus Zeitschriften (z. B. Bibliotheca Orientalis, Kairos, Manichaean Studies Newsletter, Revue de Qumrân, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Zeitschrift für Religionswissenschaft), zum anderen aus Festschriften (für U. Bianchi, C. Colpe, S. Giversen, H. Jonas,

M. Krause, P. Labib, J. Maier, H.-Ch. Puech, J. Ries, M. Smith, R. McL. Wilson) oder thematischen Kongreß- bzw. Sammelbänden, die z. T. wohlbekannt sind (wie z. B. die von K.-W. Tröger herausgegebenen Studien zu Gnosis und Bibel [1973 u. 1980] oder die von P. Nagel edierten Studien aus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg [1965 u. 1968]), z. T. aber auch weniger bekannt und verbreitet wurden, was einen Nachdruck um so willkommener erscheinen läßt.

R. selbst erklärt im Vorwort seinen eigenen "Forschungsweg", der sich in den drei fast gleich großen Teilen der Sammlung widerspiegelt: "Meine Arbeiten setzten zu einer Zeit ein, als noch kaum Näheres über die N[ag] H[ammadi] C[odices] bekannt war und hatten auch primär mit den Mandaica [301-626] zu tun, die mich allerdings immer wieder zu den übrigen Gnostica [1-298] und auch schon früh zu den Manichaica [629-781] führten" (XI). Berühmt wurde R. ja vor allem durch sein dreibändiges Werk zum Mandäerproblem, zum Kult und zu den Schriften der Mandäer (1959, 1961, 1965).

Die Ausweitung seiner Kompetenz bezeugt nicht nur der von ihm herausgegebene Sammelband Gnosis und Gnostizismus (Wege der Forschung, 262), sondern vor allem der in viele Sprachen übersetzte Klassiker Die Gnosis (1977, 31990 [UTB, Bd. 1577]). Und die angemessene Anerkennung seiner Verdienste um die Erforschung des Manichäismus fand ihren vorläufigen Höhepunkt in seiner Ernennung zum Präsidenten der ’International Association of Manichaean Studies’ (1989, bestätigt auf der 4. Internationalen Manichäismuskonferenz im Juli 1997 in Berlin).

Viele der hier versammelten Beiträge habe ich schon als Student und Doktorand, dann auch als akademischer Lehrer und Forscher mit großem Gewinn für das rechte Verständnis von Gnosis (= Gnostizismus [z. B. 170]) gelesen, nicht wenige sogar sehr intensiv durchgearbeitet (z. B. den Beitrag zum Verfasserproblem der Oden Salomos [503-537]). Insofern war auch für mich die Durchsicht des angezeigten Bandes ein erneutes Begehen des eigenen Forschungsweges, dessen Rudolph-Stationen immer eine freudige Mühe und von Bewunderung getragene Belehrung waren. In möglichst informativer Weise neue Leser herauszufordern und ihre Neugier zu wecken, ist das Ziel der folgenden und verbleibenden Zeilen, wobei ich mit Asterisk (*) und gängigen Abkürzungen (nach TRE) auf die Erstveröffentlichung hinweise.

Den Auftakt der 18 Gnostica bildet ein gemeinverständlicher Aufsatz zu Forschung und Wirkungsgeschichte von Gnosis und Gnostizismus (1-13; *Zeichen der Zeit 38, 1984), in dem R. aufzeigt, "daß auch die zweite nachchristliche Weltreligion (die erste ist der Manichäismus), der Islam, einen ’gnostischen Schatten’ besitzt" (13). Ins Zentrum der Gnosis führt uns R. mit seinen der modernen Gnoseologie gegenübergestellten Ausführungen zum Zusammenhang von Erkenntnis und Heil (14-33; *Spätantike und Christentum, hrsg. v. C. Colpe u. a., Berlin 1992). Im folgenden, einzigen englischsprachigen Beitrag (34-52; *FS Wilson, 1983) diskutiert R. die immer noch offenen Probleme der Definition von "Gnosis" und "Gnosticism", vor allem in Auseinandersetzung mit dem schottischen Gelehrten selbst, aber auch mit C. Colpe und F. Wisse.

In Anknüpfung an das einflußreiche Buch von G. Quispel (Gnosis als Weltreligion, Zürich 1951) und die kontroverse Diskussion auf dem Gnosis-Kongreß in Messina (1966) beurteilt R. die Frage, ob es sich bei der Gnosis um "eine Weltreligion oder eine (christliche) Häresie bzw. Sekte" handelt (53), in folgender differenzierter Weise: Die "Gnosis als eine relativ selbständige Religion kosmopolitischen (ökumenischen) Anspruchs hat im Zuge ihrer Geschichte den Weg zu einer ’Weltreligion’ (Manichäismus), zu verschiedenen ’Häresien’ (in Zoroastrismus, Judentum, Christentum, Islam) und ’Volksreligion’ (Mandäer) beschritten" (65; *Kairos 21, 1979).

Wie weit sich das Interesse von R. erstreckt, zeigen die beiden nächsten Beiträge, die auf Tagungen in Salzburg (66-79; *Kairos 19, 1977) und Halle (80-89; *Studien zum Menschenbild Š, hrsg. v. P. Nagel, Halle/S. 1979) vorgetragen wurden und sich von allen Aufsätzen am stärksten überschneiden. In ihnen geht es um das von H. G. Kippenberg u. a. aufgeworfene Problem einer Soziologie und sozialen Verortung der spätantiken Gnosis. In den Rahmen der Religionssoziologie fügt sich auch der zehn Jahre später verfaßte Kongreßvortrag über "Intellektuelle, Intellektuellenreligion und ihre Repräsentation in Gnosis und Manichäismus" (90-102; *Die Religion von Oberschichten, hrsg. v. P. Antes u. D. Pahnke, Marburg 1989).

Von der Soziologie zur literaturwissenschaftlichen Formkritik führt der Weg (zurück) in einem weiteren Halleschen Referat zum gnostischen "Dialog" als einem literarischen "Genus" (103-122; *Probleme der koptischen Literatur, hrsg. v. P. Nagel, Halle/S. 1968), in dem sich R. vertraut zeigt nicht nur mit länger bekannten Quellen wie der Pistis Sophia und den zwei Büchern Jeû, sondern auch mit den neueren, damals schon veröffentlichen Traktaten von Nag Hammadi. Noch aus der Zeit der intensiven Mandäerforschung stammt der älteste Aufsatz der vorliegenden Sammlung: "Ein Grundtyp gnostischer Urmensch-Adam-Spekulation" (123-143; *ZRGG 9, 1957). Die kurze bibliographische Nachbemerkung zeigt in der Tat, daß das von R. früh "aufgegriffene Thema doch bis heute ein Forschungsgegenstand geblieben" ist (143).

Die ausführlichste Begründung dafür, daß man den Begriff "Gnosis" nicht scharf unterscheiden kann vom Begriff "Gnostizismus", liefert R. in seinem mehrfach überarbeiteten Vortrag: "Randerscheinungen des frühen Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus" (144-169; *Kairos 9, 1967; Gnosis und Gnostizismus, hrsg. von K. R., Darmstadt 1975). Den Hauptteil dieses wichtigen Beitrags bilden die Ausführungen zur Unterscheidung jüdischer Esoterik oder Mystik von jüdischer Gnosis (154-163) und zum Verhältnis zwischen weisheitlicher Skepsis und Gnosis (163-169). Seine These, die "jüdisch-aramäischen Weisheitsschulen" seien "Ausgangspunkte des frühen Gnostizismus" (167; vgl. auch die graphische Übersicht 169), nimmt R. in detaillierter Weise unter der Überschrift "Sophia und Gnosis" auf (170-189; *Altes Testament ­ Frühjudentum ­ Gnosis, hrsg. v. K.-W. Tröger, Berlin/Gütersloh 1980).

Jüdische und christliche Leser werden besonders daran interessiert sein, was R. unter dem Titel "Bibel und Gnosis" vor nicht allzu langer Zeit "zum Verständnis jüdisch-biblischer Texte in der gnostischen Literatur, vornehmlich aus Nag Hammadi" zu sagen hatte (190-209; *FS J. Maier, 1993). In der neuerdings vielbeschworenen Wirkungsgeschichte kanonischer Texte (z. B. Konzept des EKK) ist dies sicherlich ein vernachlässigter Aspekt.

Die kleine religionssoziologische Studie über "Loyalitätskonflikte in der Gnosis" (210-219; *FS Colpe 1990) zeigt, wie fruchtbar für das Denken ein vorgegebenes Rahmenthema sein kann. In gewisser Weise gilt das auch für das Thema "Geheimnis und Geheimhaltung in der antiken Gnosis und im Manichäismus" (220-243; *Secrecy and Concealment, ed. by H. G. Kippenberg & G. G. Stroumsa, Leiden 1995). Offenbar zu spät für den Beitrag "Gnostische Reisen: Im Diesseits und ins Jenseits" (244-255; *FS Bianchi 1994) erschienen die grundlegenden Artikel von C. Colpe u. a. zum "Jenseits" und zur "Jenseitsfahrt (I: Himmelfahrt; II: Unterwelts- oder Höllenfahrt)" bzw. "Jenseitsreise (Reise durch das Jenseits)" (RAC 17 [1994] 246-407, 407-489, 490-543).

Lehrreich und provokativ sind die Gedanken zur Terminologie und zum Verhältnis von "Selbstverständnis" und "Fremdverständnis" unter dem Titel: "Christlich" und "Christentum" in der Auseinandersetzung zwischen "Kirche" und "Gnosis" (256-277; *FS Giversen 1993). Wer noch nicht gelernt hat, neugierige Fragen zu stellen und vieles in Frage zu stellen, wird hier dazu angeleitet. Daß die Unterscheidung zwischen "Häresie" und "Orthodoxie" ein häresiologisches Zerrbild darstellt, zeigt R. in seinem Aufsatz über "Das frühe Christentum in Ägypten: Zwischen Häresie und Orthodoxie" (278-290; *Begegnungen von Heidentum und Christentum in Ägypten, Riggisberger Berichte I, Riggisberg 1993). Am Ende des ersten Teils steht ein umfangreicher Rezensionsartikel zu der bahnbrechenden Arbeit von Heinz Hahn, Kosmologie und Heilslehre der frühen Isma’iliya (Wiesbaden 1978), in dem R. in kundiger Weise das Problem der "islamischen Gnosis" diskutiert (291-298; *BiOr 38, 1981).

Aus Platzgründen können die 13 Mandaica und 9 Manichaica leider nur noch in ähnlicher Weise aufgelistet werden, wie es im JBL mit "Collected Essays" geschieht (z. B. 116 [1997] 167-184).

Mandaica: 1. Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung (301-338; *FS Jonas 1978, ergänzt). ­ 2. Die mandäische Literatur. Bemerkungen zum Stand ihrer Textausgaben (339-362; *Das Korpus der Griechischen Christlichen Schriftsteller, hrsg. v. J. Irmscher u. K. Treu, Berlin 1977, neu bearbeitet). ­ 3. Ergebnisse einer literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Untersuchung der mandäischen Schriften (363-369; *ZDMG 112, 1962). ­ 4. Probleme der mandäischen Religionsgeschichte (370-401; *Gnosis und NT, hrsg. v. K.-W. Tröger, Berlin 1973). ­ 5. Quellenprobleme zum Ursprung und Alter der Mandäer (402-432; *FS M. Smith 1975, bearbeitet). ­ 6. Coptica-Mandaica. Zu einigen Übereinstimmungen zwischen koptisch-gnostischen und mandäischen Texten (433-457; *FS Labib 1975, revidiert). ­ 7. Das Christentum in der Sicht der mandäischen Religion (458-477; *Wiss. Zs. der Karl-Marx-Universität Leipzig 7, 1957/58, Gesellsch.-Sprachwiss. Reihe 5). ­ 8. Die Dämonisierung des "Anderen" in der mandäischen Überlieferung. Ein Kapitel des Umganges von Religionen untereinander (478-491; *FS H. J. Greschat 1996). ­ 9. Zweierlei Jenseitsreisen: Die altägyptische Nachtfahrt der Sonne und die gnostisch-mandäische Himmelsreise der Seele (492-502; *FS Krause 1995). ­ 10. War der Verfasser der Oden Salomos ein "Qumran-Christ"? Ein Beitrag zur Diskussion um die Anfänge der Gnosis (503-537; *RdQ 4 [Nr. 16], 1964). ­ 11. Die Mandäer heute. Eine Zwischenbilanz ihrer Erforschung und ihres Wandels in der Gegenwart (538-568; *Zs. für Religionswiss. 2, 1994). ­ 12. Antike Baptisten. Zu den Überlieferungen über frühjüdische und frühchristliche Taufsekten (569-606; *SSAW.PH 121,4, Berlin 1981, neubearbeitet). ­ 13. Das Verhältnis der Mandäer zum Manichäismus (607-626; *GrTS 16, 1994).

Manichaica: 1. Gnosis und Manichäismus nach den koptischen Quellen (629-654; *Koptologische Studien in der DDR, hrsg. v. P. Nagel, Halle/S. 1965). ­ 2. Mani und die Gnosis (655-666; *Manichaean Studies, ed. by P. Bryder, Lund 1988). ­ 3. Die Bedeutung des Kölner Mani-Codex für die Manichäismusforschung. Vorläufige Anmerkungen (667-685; *FS Puech 1974). ­ 4. Jüdische und christliche Täufertraditionen im Spiegel des Kölner Mani-Codex (686-697; *Codex Manichaicus Coloniensis, Cosenza 1986). ­ 5. Mani und der Iran (698-713; *FS Ries 1991). ­ 6. Bemerkungen zur manichäischen Vorstellung vom Nous (714-723; *The Manichaean Nous, ed. by A. van Tongerloo & J. van Oort, Louvain 1995). ­ 7. Stand und Aufgaben der Manichäismusforschung. Einige Überlegungen (724-741; *Studia Manichaica, hrsg. v. G. Wießner u. H.-J. Klimkeit, Wiesbaden 1992, ergänzt). ­ 8. Mani und seine Religion (742-772; deutsche Fassung des ital. Beitrags "Il Manicheismo": Storia delle religioni. 3. Religioni dualiste, Islam, ed. by G. Filoramo, Bari 1995). ­ 9. Hans Jonas und die Manichäismusforschung (773-781; *Manichaean Studies Newsletter 12, 1995).

Mit diesem Nachruf auf den Bultmann- und Heideggerschüler Hans Jonas, der am 5. 2. 1993 in New Rochelle, NY, verstarb, sozusagen im Exil nach seiner Flucht vor den Nazis, beschließt R. würdig seine imposante Aufsatzsammlung und verbeugt sich damit vor einem anderen großen Gnosisforscher, dessen Werke in deutscher und englischer Sprache für das Verständnis der gnostischen Weltanschauung noch lange von größter Bedeutung sein werden.