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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

224–227

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Möller, Christian

Titel/Untertitel:

Einführung in die Praktische Theologie.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2004. XII, 286 S. 8° = UTB 2529. Kart. € 21,90. ISBN 3-7720-3012-2 (Francke); 3-8252-2529-1 (UTB).

Rezensent:

Wilfried Engemann

Allein im Laufe der letzten Jahre sind einige ausgesprochen in struktive Arbeiten und Sammelbände zur Grundlegung, zur Aufgabe und zum Selbstverständnis der Praktischen Theologie erschienen. Dazu gehören u. a. – in chronologischer Folge – der Entwurf von W. Steck (Praktische Theologie, Bd. I, 2000), der Sammelband Praktische Theologie als Topographie des Christentums (2000, hrsg. v. E. Hauschildt, M. Laube u. a.), G. Lämmermanns Einleitung in die Praktische Theologie (2001), der Band Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen (2001, hrsg. v. G. Lämmlin und S. Scholpp) sowie die Präsentation einzelner Ansätze in dem von E. Hauschildt und U. Schwab edierten Werk Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert (2002) – von diversen Arbeitsbüchern zur Praktischen Theologie ganz zu schweigen. Eine ausgesprochene Einführung in das weite Feld praktisch-theologischer Theoriebildung stand aber noch immer aus und war – gerade angesichts des weit verzweigten Diskurses dieses komplexen Gebiets der Theologie – ein Desiderat. Um so willkommener war das Er scheinen des hier zu besprechenden Titels, der von Christian Möller verfassten »Einführung in die Praktische Theologie«.
Angesichts der facettenreichen praktisch-theologischen Debatte der vergangenen Jahre überrascht es allerdings, dass im Mittelpunkt des Buches weder eine systematische Auseinandersetzung mit den Entwürfen der Praktischen Theologie der letzten Jahrzehnte steht noch ein eigenes geschlossenes Theoriekonzept entwickelt wird. Stattdessen bekommt man mit diesem Buch eine Art Examensreader in die Hand, der im Stil eines Lexikons kurze (oft historische) abstracts mit knappen, spärlich begründeten Bewertungen bietet. Solche Werke können für eine schnelle Orientierung durchaus nützlich sein, vorausgesetzt, die Auswahl der Stoffe, Themen bzw. Theorieansätze ist repräsentativ und die Bewertungen sind hinreichend begründet, so dass mit einer zuverlässigen Information gerechnet werden darf. In dieser Hinsicht könnten dem Leser freilich schon vom 1. Kapitel an Zweifel aufkommen: Nach kurzen Angaben zur Praktischen Theologie in der Alten Kirche, im Mittelalter, in Reformation, Orthodoxie, bei Schleiermacher und im 19. Jh., werden auf etwa drei Seiten die »Positionen im 20. Jahrhundert« dargestellt, die der Vf. einer kerygmatischen, empirischen und spirituellen Gestalt der Praktischen Theologie zuordnet.
Damit glaubt der Vf. auch die entscheidenden Epochen der Praktischen Theologie signifizieren zu können. Demnach ist zurzeit die Wende von der empirischen zur spirituellen Phase praktisch-theologischer Theoriebildung in vollem Gange, zu deren Vertretern der Vf. außer sich selbst vor allem Rudolf Bohren, Manfred Josuttis und Albrecht Grözinger zählt. Inwieweit ausgerechnet die vorzüglich zu lesenden rezeptionsästhetischen Essays Grözingers (Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 1995; vgl. die Rezension in PrTh 33, 1998, 57–61) ein Meilenstein auf dem Weg zu einer »spirituellen Gestalt der Praktischen Theologie« sein sollen (21), wird nicht deutlich. In den dieser Idee gewidmeten Abschnitten, die der Vf. gelegentlich in die einzelnen Kapitel über Homiletik, Liturgik, Gemeindeaufbau usw. einfügt, geht es bald um das »›Erglauben‹ im Umgang mit der Kirche« (63), um Anknüpfungen an die »evangelische Mystik« Gerhardt Tersteegens (107), um die Einkehr bei den »Vierzehn Tröstungen« Martin Luthers (187) oder – etwa im Blick auf den Religionsunterricht – um den Versuch, »die Bibel soweit wie irgend möglich selbst sprechen zu lassen« (220). Die innere Kohärenz dieser Versatzstücke evangelischer Theologie und Religion im Sinne eines Entwurfs für eine »spirituelle Gestalt der Praktischen Theologie« bleibt jedoch im Dunkel.
Abgesehen von dem vage konturierten Verständnis von Spiritualität ergibt sich die Frage, weshalb überhaupt die Gestalt der Wissenschaft Praktische Theologie spirituell sein muss – und nicht z. B. die praktisch-theologisch reflektierten Handlungen der Gemeinde. Überdies werden hier Äpfel mit Birnen verglichen: E. Langes Praktische Theologie hat aus spirituellen Gründen eine empirische Note, A. Grözingers praktisch-theologische Ästhetik, die der Vf. spirituell nennt, ist empirisch auf Wahrnehmungsprozesse bezogen. Daher ist es kaum überzeugend, das spirituelle Interesse Praktischer Theologie gegen empirische Methoden auszuspielen.
Der gravierendste Mangel dieses Herangehens, das den Zu schnitt des ganzen Buches bestimmt, ergibt sich aber aus dem Ausmaß, in dem der Vf. die (durchaus überschaubare) Vielfalt der oben erwähnten praktisch-theologischen Theoriebildung übergeht. Dass er offensichtlich selbst nicht von ihr profitieren konnte, hätte ihn nicht daran hindern müssen, in einer Einleitung im UTB-Format wenigstens über diese Entwicklungen zu informieren, die es nach der empirischen Wende und außerhalb der viel beschworenen Wende zur spirituellen Gestalt gegeben hat. In dem Kapitel über den Ort der Praktischen Theologie wird nicht nur auf keines der eingangs erwähnten Bücher Bezug genommen, sondern man erfährt auch sonst nichts über die vielfältigen psychologischen, sozialwissenschaftlichen, sprachwissenschaftlichen u. a. Impulse, die die Praktische Theologie auch als Theorie erheblich bereichert und zur theologischen Selbstreflexion herausgefordert haben. Der Vf. spricht demgegenüber pauschal von »hemmungslosem Empirie-Import« (17), wobei er übersieht, dass zu den rezipierten Wissenschaften durchaus auch solche gehörten, die ganz und gar nicht »empirisch« waren.

Nicht nur die fehlende Information ist zu bedauern, sondern auch die ungenaue Einschätzung dessen, was der Leser über die Entwicklungen der Praktischen Theologie »nach ihrer empirischen Wendung« er fährt: So sei sie z. B. »dogmatisch vor allem dem Artikel von der Schöpfung« gefolgt (23f.). Dies ist insofern unzutreffend, als sowohl der im Dialog mit den Kommunikationswissenschaften geführte Diskurs über Fragen der Homiletik als auch die psychotherapeutischen Vorstöße in der Seelsorge in besonderem Maße christologisch akzentuiert sind.

Wenngleich das Buch kaum dazu geeignet ist, in den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Praktischen Theologie einzuführen, kann es doch der Erstinformation über Fragen dienen, die im Beruf des Pfarrers eine Rolle spielen: So findet man einen Abriss der Lehre vom Amt bzw. des Berufsverständnisses des Pfarrers (wobei allerdings nicht auf die Professionalitätsdebatte der letzten zehn Jahre Bezug genommen wird) sowie Informationen über das Verständnis von Gemeinde – freilich ohne Anschluss an die in den Landeskirchen seit ca. 15 Jahren intensiv geführten Strukturdiskussionen und die vorliegenden Theorien zum Strukturwandel in den Gemeinden. Der Vf. führt des Weiteren wichtige Aspekte der Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes auf, wobei man wiederum eine ausgeprägte (kritische) Reflexion liturgischer Theorie vermisst: Zwar überschreibt der Vf. einen der darin enthaltenen Abschnitte mit »Diskussion« (95–108).
Wer hier eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten liturgiewissenschaftlichen Reflexionsperspektiven und entsprechenden Monographien vermutet, wird jedoch enttäuscht. Der Vf. bringt vielmehr einzelne geschichtliche Erfahrungen mit dem Gottesdienst zur Sprache (Gottesdienst als Mitte der Gemeinde, Gottesdienste in neuer Gestalt, kritische Stimmen zu diesem Projekt); ferner bietet er Informationen zum Gottesdienst im Neuen und Alten Testament, verweist auf dessen trinitarische Wirklichkeit und beschließt seine Darstellung mit sieben Thesen zur spirituellen Gestalt des Gottesdienstes, deren letzte lautet: »Eine Überwindung der allgemein herrschenden Beliebigkeit protestantischer Liturgik und Gottesdienste wird gegenwärtig wohl nur so möglich sein, dass zunächst einmal einzelne Gemeinden mit ihren Pfarrern und Pfarrerinnen mit Hilfe des EGB eine notwendige und spirituelle Gestalt des evangelischen Gottesdienstes in ökumenischer Offenheit wie derentdecken und dann auch beharrlich, fröhlich und ehrfürchtig feiern« (108).
Das Theoriepotential der Homiletik im 20. Jh. wird auf ca. sechs Seiten abgehandelt und endet mit Rudolf Bohren (Jg. 1920) und dessen Schüler Manfred Josuttis (Jg. 1936). Dass die Praktische Theologie durch die sich zu Nachbarwissenschaften hin öffnende Predigtlehre im letzten Drittel des 20. Jh.s entscheidende Impulse empfangen hat, wird nicht er wähnt. Dafür werden auf immerhin ca. acht Seiten hilfreiche Tipps gegeben, die dem Leser erklären, was er von montags bis sonntags alles tun kann, um mit der Predigt nicht in Zeitnot zu geraten.
Die Abhandlung der Poimenik bietet ihrerseits viele wertvolle historische Informationen. Die theoretische Debatte bzw. die Auseinandersetzung mit Seelsorgetheorie der Gegenwart wiederum erfolgt auf recht schmaler Basis: Was der Vf. etwa zum pastoralpsychologischen Verständnis von J. Scharfenberg schreibt, ist derart rudimentär, dass selbst der in diesen Fragen bewanderte Leser seine Probleme haben dürfte, die Substanz des Scharfenbergschen Ansatzes darin wiederzuerkennen. Die – von Scharfenberg theologisch reflektierte – Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie wird in Stichworten auf vier Zeilen präsentiert (162). Das zeugt m. E. nicht von einem ausgeprägten Interesse an der Einführung in einen Ansatz, der heute einen erheblichen Teil der Arbeit nicht nur Praktischer Theologen, sondern auch der praktischen Seelsorge und kirchlichen Beratungsarbeit bestimmt. Dem Versuch einer – z. B. an den Elementen des seelsorglichen Gesprächs orientierten – Erschließung oder Aufbereitung der leitenden Ideen und Perspektiven der Seelsorgebewegung verschließt sich der Vf. mit dem Hinweis, dass die Seelsorgeliteratur »so uferlos wurde, dass sie hier auch nicht annähernd dargestellt werden kann« (177). Umso ausführlicher werden die Anfragen an die Pastoralpsychologie (178–182) und die Wiederentdeckung der »Weite der Seelsorge« erläutert, für die u. a. Martin Luther (gegen Klaus Winkler) und der Vf. selbst stehen (185–191).
Die Kapitel Kasualien (192–211), Katechetik (212–232) und Diakoniewissenschaft (233–262) ließen sich in analoger Weise erörtern, wobei die extrem verkürzte – wie zu erwarten in eine spirituelle Position mündende – Darstellung der Entwicklung der religionspädagogischen Theorie der letzten 20 Jahre besonders zu bedauern ist. Im Anhang finden sich vor allem Hinweise zur Bewältigung eines theologischen Examens und einschlägige Literaturangaben – leider mit zum Teil ungenauen In haltsan gaben: In Jürgen Ziemers Seelsorgelehre werden wohl kaum ›die verschiedenen pastoralpsychologischen Richtungen harmonisiert‹ (279), sondern sie werden differenziert in ihrer je eigenen Spezifik auf die Grundfragen der Seelsorge bezogen; ebenso enthält meine Einführung in die Homiletik keine »auf semiotischer Grundlage vorgehende Predigtlehre« (278), sondern eine allgemeine Abhandlung der theologischen Grundlagen, problemgeschichtlichen Entwicklungen und methodischen Ansätze der Homiletik, wobei die Semiotik nur am Rande eine Rolle spielt.
Examenskandidaten oder interessierten Laien, die sich ein Bild über den Stand des theoretischen Diskurses der »Praktischen Theologie« machen wollen, wird man dieses Buch kaum empfehlen können. Für einen ersten Einblick jedoch ist es mit Gewinn zu lesen.