Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

220–222

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chance der Seelsorge in Zeiten der Krise.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. 298 S. 8°. Kart. € 27,95. ISBN 3-579-05208-X

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Dass der Konflikt zwischen kerygmatischer und therapeutischer Seelsorge überwunden ist und neue Fragestellungen etwa von den Sozial-, Sprach- und Kulturwissenschaften für die Poimenik relevant geworden sind und zugleich eine Rückbesinnung auf religiöse Praktiken und theologische Fragen seelsorglichen Handelns stattfindet, wird in diesem Band des Hamburger Praktischen Theologen und Homiletikers Hans-Martin Gutmann greifbar. In der Vaterunserbitte des Haupttitels seiner Monographie kommt der biblische Bezug an vorderster Stelle zum Tragen, der in weiten Teilen des Bandes immer wieder relevant ist. Der Untertitel verdeutlicht sozusagen den »Sitz im Leben« dieses Seelsorgebuches, bezeichnet gleichzeitig den akuten Anlass, der im Vorwort so formuliert wird: »die zeitgenössische globalisierte Gesellschaft ist … von bedrohlichen Lebenskrisen betroffen« (9). Die Chancen gegenwärtiger Seelsorge werden von daher ausgeführt am Exempel des Gewaltthemas, dem eine grundlegende Verunsicherung darüber zu Grunde liege, welche Regeln für das Zusammenleben gelten sollen. Das Attentat vom 11. September 2001 und die Gegengewalten im »Krieg gegen den Terrorismus« sowie daraus wiederum erwachsende Gewaltmuster in einem eskalierenden Kreislauf werden als Bedrohung für die globale Gesellschaft, zugleich aber als Anlass für neue Zugänge zu den Chancen der Seelsorge und anderer christlicher Aktionsformen verstanden.
G. nimmt neben dem aktuellen Gewaltthema zwei Ausgangspunkte: Einmal setzt er an beim Seelsorgertum aller Getauften: »Seelsorge ist nicht nur die Sache von kirchlichen AmtsträgerInnen oder Beratungsstellen, sondern Kompetenz und Aufgabe aller Christenmenschen« (9). Seine Ausführungen geben hin und wieder auch Hinweise für die Pflege der eigenen Seele und für Möglichkeiten der »Laienseelsorge«, zielen jedoch meist auf hauptamtliche Theologinnen und Theologen. Zum anderen geht er aus von seinem »energetischen« Programm: »Seelsorge ist im Kern eine religiöse Methode« (9). Sein Entwurf bietet eine interessante Versöhnung und Integration von genuin theologischen Zugängen biblischer und reformatorischer, aber auch gegenwärtig praktisch-theologischer Art einerseits mit psychotherapeutischen Verfahren und sozial- und sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits.
Auf dieser Basis wird in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Entwicklungen der Kultur versucht, seelsorgliches Handeln als heilsame christliche Praxis für die Einzelperson, für Gruppen wie für die Gesellschaft zu profilieren. Dazu arbeitet G. aus älteren und neueren Konzepten der Seelsorge das heraus, was er als »Ressourcen« für heute versteht. Er versucht, die Fixierung auf Defizite und Konflikte in der Seelsorgelehre zu überwinden. Im Anschluss an Hans-Christoph Piper unterscheidet er Seelsorge nicht zuerst von »humanwissenschaftlich begründeten Therapieangeboten, sondern von anderen kirchlichen Handlungszusammenhängen« (45). Gegenüber den planbaren Rahmenbedingungen und inhaltlichen Ausgestaltungen etwa liturgischer, homiletischer, aber auch religionspädagogischer Kommunikationssituationen ist seelsorgliches Handeln spontaner, dem Gegenüber geöffneter, unplanbarer und alltäglicher. So bietet es auch genuine Chancen, individuellen und gesellschaftlichen Gewaltkrisen und -prozessen zu begegnen. G. nimmt hier erwartungsgemäß Konzepte der Alltagsseelsorge auf, setzt sich konstruktiv mit feministischen Seelsorgeansätzen auseinander, verarbeitet Fragen interkultureller Seelsorge ebenso wie das aktuelle Thema »Seelsorge in der Mediengesellschaft« (67). Unter dem Stichwort »Subjektivität« werden Fragen der Identität, der Selbstsorge und der Begegnung mit dem Anderen verhandelt.
An dieser Stelle kommt mit der Rezeption von Ingo Baldermanns religionsdidaktischem Ansatz und im Anschluss an Jürgen Ebachs Hiobdeutung die biblische Tradition ins Spiel. Von da aus ist es kein großer Sprung zu G.s Versuch, »das spezifisch Reformatorische einer evangelischen Seelsorge« (106) zu konzeptualisieren, indem er sich mit der Formel »per mutuum colloquium et consolationem fratrum« sozialgeschichtlich und genderkritisch auseinander setzt, um dann in der Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Interpretation seelsorglichen Geschehens und mit der Neuaufnahme biblischer Erzähltraditionen in die Poimenik zum Zentrum seines eigenen Ansatzes zu kommen, die »Seelsorge als religiöses Geschehen und religiöse Wirklichkeit« (126) wahrzunehmen und die »energetisch machtvollen Prozesse« (127) wirksam werden zu lassen. Auf der Basis der Kritik von Manfred Josuttis an Joachim Scharfenbergs »Seelsorge als Gespräch« gelangt G. zur energetisch-religiösen Seelsorge. Die Idee, dass Seelsorge wie das Evangelium nicht in erster Linie Lehre, Kerygma oder Emotion, sondern »Gottesmacht« (130) ist, übernimmt G. ebenso von Josuttis wie den Prozessgedanken der »Verflüssigung« oder des »Flusses« im Sinne eines heilsamen Austausches. Allerdings zielt G. stärker auf eine förderliche »Kontinuität zwischen humanwissenschaftlichen und religiösen Seelsorge-Verfahren« (134). Zudem betont G. die gesellschaftliche, politische und diakonische Dimension der Seelsorge deutlich und arbeitet sie etwa in der Auseinandersetzung mit Terror, Gewalt, Ausgrenzungsprozessen und Krieg auf.
In einem dynamisch-energetischen »Fluss-Prozess« (150) entmächtige Seelsorge zerstörerische Mächte und setze zugleich heilsame Mächte in Kraft. Um das zu realisieren, füllt G. eine große Lücke evangelischer Seelsorgelehre, indem er ein religiöses Verfahren, eine energetische Seelsorgemethodik entwickelt.

Dazu spannt er einen Bogen von biblischer Begründung – etwa der Perikopen von der Austreibung der Dämonen als gewaltfreiem Exorzismus und der Heilung des Gelähmten als Wiederherstellung zerbrochener Beziehung –, sozialpsychologischen Erklärungsmodellen der »Reziprozität« und »Mimese« (154) (d. h. Gewaltprozesse und Nächstenliebe- bzw. Versöhnungsprozesse funktionieren gleichermaßen nach dem Prinzip der Nachahmung) und psychotherapeutischen Methodiken. Für Seelsorgetreibende selbst empfiehlt G. zur Entwicklung der »religiösen Basiskompetenz« (164) eine ganzheitliche regelmäßige Gebetspraxis mit kör per orientierten Elementen und zur Förderung der »therapeutischen Methodenkompetenz« (164) gezielt angeleitete tägliche Wahrnehmungsübungen. In den Vollzug der energetischen Seelsorge werden Elemente der Gesprächspsychotherapie nach Rogers (als »Einübung in den Habitus der Wahrnehmung« [172]), Erkenntnisse und Methoden systemischer Familientherapie, Transaktionsanalyse und Verhaltenstherapie (als Hilfen zum »Abweisen und Zurücklassen« [181] destruktiver Prägungen und Haltungen) wie Elemente der Gestalttheorie und Gestalttherapie (als Methoden zum »Hinwenden und Kontakt finden« [200] zu förderlichen Lebenskräften) integriert.
Nach dieser Grundlegung setzt sich G. mit den spezifischen Chancen der »Evangelischen Seelsorge in Gewaltkrisen« (220 ff.) auseinander. Hier bewegt er sich in wiederum sehr vielfältigen und aktuell relevanten Bereichen. So unterscheidet er destruktive Gewalt und die »lebensförderliche Seite« (221) der Aggression, setzt sich mit terroristischer Gewalt auf der Folie einer tiefen Verunsicherung des alltäglichen Lebens und seiner ethischen Regeln auseinander, plädiert für eine neue »Einbeziehung des Vater-Bildes in die Symbole heilsamer Macht« (234) und zeigt die Kompetenz von Religion und Seelsorge angesichts von Gewaltprozessen ökonomischer Ausbeutung auf. Schließlich wendet er sein Konzept auf die »Handlungsfelder« (271) »Gewalt in den Medien« (272), »in den Schulen« (277) und für die Möglichkeiten öffentlicher Stellungnahmen in Denkschriften, Predigten, Zeitungsartikeln zur Lösung von Gewaltkrisen an.


Manche theologische Argumentation und Anleitung zu praktischer Religiosität bei G., auch seine Vorstellung einer »Fluss-Bewegung« der Seelsorge, erinnern an die deutsche Mystik eines Meister Eckhart oder Johannes Tauler mit der Lehre vom »Seelengrund«, der zunächst von dem Bösen gereinigt und leer werden muss, um danach mit Göttlichem neu gefüllt zu werden. Interessanterweise bezieht sich G. nicht auf diese mystischen Traditionen, obgleich sie auch mit ihrer politischen Dimension bis heute wirksam sind – denken wir etwa an Dorothee Sölles Band »Mystik und Widerstand« – und gut in sein Konzept passen würden.
Insgesamt bietet G. hier einen erfreulich innovativen Seelsorgeansatz, der sich der religiösen Wurzeln besinnt, psychotherapeutische Verfahren integriert, praktische Methoden vorschlägt und dabei eine politische Perspektive realisiert.