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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

216–218

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Werner, Micha H.

Titel/Untertitel:

Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 275 S. gr.8° = Episte mata, 338. Kart. € 32,00. ISBN 3-8260-2444-3.

Rezensent:

Alexander Dietz

Werner leistet mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur diskursethischen Diskussion, indem er aufzeigt, dass viele klassische Probleme mit der Konzeption der Diskursethik als Normenethik zusammenhängen und durch einen maximenethischen Ansatz überwunden werden können.
Zunächst geht W. auf Begründungsprobleme, die sich auf die Rechtfertigung des Moralprinzips durch den diskursethischen Ansatz beziehen, ein. Er betont, dass eine überzeugende Moralbegründung unabdingbar zur sinnvollen Betreibung normativer Ethik sei. Von allen möglichen Begründungsmethoden ist seines Erachtens jedoch allein die intersubjektivistisch-transzendentalphilosophische tragfähig, die von Diskursethikern in Anspruch genommen wird, indem sie versuchen, Sinnbedingungen von Äußerungen aufzuweisen, die jeder, der sich äußert, zumindest unbewusst anerkennen muss, und daraus Prinzipien für die Moralbegründung zu gewinnen. W. kommt im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Verantwortungsbegriff zum Ergebnis, dass die Zuschreibung von Handlungen die Zuschreibung von Rechtfertigungspflichten impliziere, weil jeder Handelnde mit seinem Handeln den Anspruch erhebe, gute Gründe für sein Handeln zu haben, denen im freien Diskurs von allen zugestimmt werden können müsse.
W. lehnt den kritischen Einwand gegen universell verbindliche Begründungen in Diskursen als dogmatisch und inkohärent ab, da dessen Vertreter mit ihrem Einwand nicht minder Geltungsansprüche erhöben, für die alle Adressaten von ihnen Rechenschaft verlangen dürften. Mit diesem Argument kann zwar einem oberflächlichen Skeptizismus begegnet werden, aber dem Einwand eines »positionellen Pluralismus« (Wilfried Härle) wird er damit nicht gerecht, der darauf verweist, dass das handlungsleitende Ethos eines Menschen durch sein jeweiliges Daseinsverständnis geprägt ist, zu dem u. a. religiöse Wahrheitsgewissheiten gehören, die sich ihm in seiner individuellen Biographie erschlossen haben und die mit den religiösen Wahrheitsgewissheiten anderer Menschen unvereinbar sein können. Die diskursreflexive Moralbegründung ist dennoch in sich schlüssig (wenngleich etwas apodiktisch): Jeder Handelnde er hebe den Anspruch, dass seine Handlung diskursfähig sei. Da rum gelten für jeden Handelnden diskursethische Normen. Wenn ein Handelnder denke, er könne sich dem Diskurs entziehen, dann irre er sich, weil Diskurs per definitionem eine Bedingung für Handeln darstelle.

In einem Exkurs zur Frage, wem wir moralische Achtung schulden, kommt W. zu dem Ergebnis, dass dafür zwar eigentlich nur Diskursfähige in Frage kämen, aber da wir für uns selbst im Falle des Verlusts unserer Diskursfähigkeit auch noch moralische Achtung beanspruchten und deshalb bereit seien, sie an deren zu gewähren, die ihre Diskursfähigkeit verloren haben, und weil deren Bedürfnisse sich moralisch nicht von denen solcher unterschieden, die nie diskursfähig waren, sollten wir alle Lebewesen, die Bedürfnisse haben können, moralisch achten. Die etwas gezwungen wirkende Argumentation zeigt, dass man zur Begründung der Menschenwürde offensichtlich einen anderen Ansatz als den diskursethischen braucht.

Im Folgenden geht W. auf Anwendungsprobleme ein, die sich auf die Orientierung am Moralprinzip der Diskursethik beziehen. Zunächst setzt er sich mit der Kantischen Ethik auseinander, als deren moderne Reformulierung sich die Diskursethik versteht. Die klassischen Anfragen sowohl an die Ethik Kants als auch an die Diskursethik lassen sich unter die Begriffe Formalismuskritik und Rigorismuskritik subsumieren. Die Formalismuskritik, die danach fragt, ob das Moralprinzip überhaupt irgendeine Handlungsorientierung bietet, kann W. relativ leicht so wohl für Kants Ethik (weder ist jede noch keine Maxime mit dem Kategorischen Imperativ vereinbar) als auch für die Diskursethik (aufweisbarer kriterialer Gehalt, z. B. Einhaltung von Diskursregeln) zurückweisen. Die Rigorismuskritik, die da nach fragt, ob die Handlungsorientierung überhaupt angemessen, zu mutbar und verantwortbar ist, ist demgegenüber schwerer zu bewältigen. An diesem Punkt sieht sich W. zu einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Maximenbegriff genötigt und entwickelt eine spezifische, »plausible« Deutung des Kantischen Ansatzes: Es müsse zwischen Verpflichtungen und Verpflichtungsgründen (bzw. Prima-facie-Gründen) unterschieden werden. Während Verpflichtungen gültige und angemessene Präskriptionen darstellten, seien Verpflichtungsgründe vorläufige Präskriptionen, die miteinander kollidieren könnten und erst noch mittels des Kategorischen Imperativs daraufhin überprüft werden müssten, ob sie in bestimmten Situationen gültig und angemessen seien. Indem Maximen gemäß dieser Definition nicht als Verpflichtungen, sondern als Verpflichtungsgründe angesehen würden, könnte das Rigorismus-Problem gelöst werden.
Die Diskursethik wurde jedoch in der Regel nicht als Maximenethik, sondern als Normethik konzipiert. Insofern mussten ihre Vertreter andere Wege finden, dem Rigorismus-Verdacht zu begegnen. So differenzierten Klaus Günther und Jürgen Habermas zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen, d. h. zwischen der Frage nach der Gültigkeit einer Norm und der Frage, ob eine bestimmte Handlung geboten erscheint im Blick auf Angemessenheit und Zumutbarkeit. Dabei stellt sich insbesondere das Problem der Zumutbarkeit von Normbefolgung in Situationen nicht-allgemeiner Normbefolgung. Karl-Otto Apel stellt in seinem Ansatz dem Universalisierungsprinzip ein Ergänzungsprinzip zur Seite, dabei entsteht jedoch das Problem der Prinzipienkonkurrenz. Marcel Niquet unterscheidet wiederum zwischen der einfachen Gültigkeit einer moralischen Norm und ihrer Befolgungsgültigkeit.
Allen diesen problembeladenen Ansätzen stellt W. als Alternative seinen auf der »plausiblen« Kant-Deutung basierenden maximenethischen Ansatz der Diskursethik gegenüber. Danach müsse man sich zu jeder Handlung ein ganzes System von Maximen im Sinne spezifikationsoffener, potentiell unbegrenzt situationsspezifischer Orientierungen denken. Die alternativen Maximen müssten im Universalisierbarkeitstest auf ihre Zustimmungsfähigkeit als allgemeine Prima-facie-Handlungsgründe geprüft werden.

Das Problem der Maximenkollision könne gelöst werden, indem bei einer Kollision gültiger Maximen eine komplexe Maxime gebildet werde. Das Problem der Zumutbarkeit angesichts nicht-allgemeiner Normbefolgung lasse sich durch hinreichend spezifische Präskriptionen lösen sowie da durch, dass Maximen nicht als Verpflichtungen, sondern als Prima-facie-Prinzipien verstanden würden. Es gebe dann keine grundlegende Differenz zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen, sondern der Unterschied zwischen der Begründung genereller und der Begründung spezifischer Maximen werde als ein bloß gradueller Unterschied innerhalb eines strukturell homogenen Rechtfertigungsdiskurses angesehen.

W.s Abhandlung verschafft dem Leser in übersichtlich strukturierter und klar formulierter Weise einen Überblick über die aktuelle diskursethische Diskussion und bereichert diese um einen einfachen, aber überzeugenden und weiterführenden Grundgedanken.