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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

215 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Szaif, Jan, u. Matthias Lutz-Bachmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was ist das für den Menschen Gute? Menschliche Natur und Güterlehre. What is Good for a Human Being? Human Nature and Values.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. VIII, 332 S. gr.8°. Geb. € 74,00. ISBN 3-11-017206-2.

Rezensent:

Bernd Harbeck-Pingel

Als Dokumentation eines Symposions, das im Sommer 2001 anlässlich der Emeritierung von Ludger Honnefelder in Bonn stattgefunden hat, legen Jan Szaif und Matthias Lutz-Bachmann einen Sammelband unter dem Titel »Was ist das für den Menschen Gute?« vor, der in 15 teils historisch, teils systematisch orientierten Untersuchungen die Relevanz einer solchen Ethik ermisst, die im Anschluss an Aristoteles besonders den Begriff des Strebens in den Blick nimmt. Die zweifellos sinnvolle chronologische Einteilung des Buchs gemäß historischen und gegenwärtigen Gesichtspunkten (Antike, Mittelalter und zeitgenössische Perspektiven) wird von den Autoren, namentlich von dem Geehrten, zum Glück unterlaufen, indem sich die Verfasser der philosophiegeschichtlichen und exegetischen Studien nicht der Frage entledigen, was deren Beitrag für das gegenwärtige Nachdenken über das Gute und das Streben danach wäre.
So stellt zum Beispiel Jan Szaif heraus, dass die aristotelische Letztzielorientierung eine Diversifikation von selbstzweckhaften Lebensformen und Zielen nicht ausschließt. Die Zweck-Mittel-Relation, wie sie üblicherweise dem höchsten Gut gegenübergestellt wird, vereinfacht die aristotelische Konzeption eines doppelten Zielbezugs, demzufolge etwa die Freundschaft als selbstzweckhafte Form der Eudaimonia zwar zu-, aber nicht nachgeordnet wird. Wenn bereits moralischen Bewertungen und Verfasstheiten ein Zielbezug innewohnt, ist die Aufmerksamkeit der Person auf sich eine Funktion des Strebens, insofern sich darin Gelingen und Misslingen auch der Erwartung an das eigene Leben abbilden.
Das schließt mit Recht auch ein, dass die Selbstbetrachtung von Personen gegenüber einem Ideal der Selbstvergessenheit bevorzugt wird. Zwar wird man mit Thomas von Aquin, wie Georg Wieland betont, auf den nichtabsichtlichen Weltbezug, wie er in der Wahrnehmung von Personen deutlich wird, verweisen müssen. Doch ist es die Leistung der praktischen Vernunft, dass sie in ihrem Naturverhältnis das Gute erfasst und demgemäß Bestimmungen des Willens vollzieht und Handlungen auf ihr Gelingen und Misslingen hin beschreibt.
Für die Struktur der Ziele heißt dies (Ludger Honnefelder), dass neben der Orientierung am Naturbezug eine Integration in Bezug auf eigene Vorstellung vom gelingenden Leben erfolgt, sobald der Naturbezug in Vernunft und natürlicher Neigung sich nicht als vorrangig, als Prinzip, manifestiert. Dieses Modell hat auch für die gegenwärtige Diskussion erhebliche Bedeutung, wenn auch die Beiträge von Martin Seel mit dem Selbstbestimmungsbegriff oder von Matthias Lutz-Bachmann mit »Anerkennung« andere Schwerpunkte setzen.
Die Naturgemäßheit der praktischen Lebensform bei Aristoteles wird nun nicht aus der Form des doppelten Zielbezugs und aus Bedürfnisstrukturen abgeleitet, sondern sozial expliziert. Sie dient indes als Korrektiv gegenüber den Lasten und Verformungen kultureller Gestaltungen, wenn das Streben und die normativen Strukturen der Praxis in ihrer Urteilsfunktion auf den Plan gebracht werden.
Das Außergewöhnliche der Naturvollendung im Streben nach dem Guten lässt sich auf Mechthild Dreyers Interpretation der Freundschaft bei Albertus Magnus anwenden: Wird die Selbstzweck-Struktur der Freundschaft ersichtlich, ist auch ihr Bezug auf das Gute deutlicher als die der anderen Gestaltungen (aristotelischen Musters), die sich an Emotionalität und Nutzen orientieren. Mit den Variationen von Freundschaft wird die Re levanz der doppelten Zielbestimmung bei Aristoteles beleuchtet; die selbstzweckhaften Lebensweisen, die der Eudaimonia zugeordnet sind, werden höher eingestuft als solche, die möglicherweise in einer Zweck-Mittel-Relation bezogen auf die Eudaimonia stehen oder selbst an dieser nicht mehr zu messen sind. – Im Unterschied zu aristotelischen oder thomistischen Interpretationen des Guten, die auf einen elaborierten Naturbegriff Bezug nehmen, begnügt sich Ludwig Siep bei der Frage »Gibt es eine menschliche Natur?« mit einer behutsamen Bestandsaufnahme. Abseits metaphysischer Fragestellungen erörtert er, in wie weit angesichts der Entwicklung der Bioethik dem Planungs verzicht eine ethische Bedeutung zukommt, was bei spielhaft am Begriff der Gleichheit durchgeführt wird.
Der Sammelband ist darin bemerkenswert, dass sich sowohl aus der Theorie des Strebens als auch aus dem pragmatischen Vorschlag eines Gestaltungsverzichts plausible Applikationen von Naturbegriffen ergeben. So wird deutlich, dass die Art und Weise, in der nach Gutem gestrebt wird, methodisch different gesehen und zugleich von einer technischen Behandlung freigehalten werden kann.
Mögen auch – je nach philosophischer oder theologischer Sicht – eudaimonia und bonum perfectum zu unterscheiden sein (Denis Bradley, Klaus Jacobi), so ist es doch die Orientierung an der praktischen Wahrheit (Ludger Honnefelder), die auf die Selbstbestimmung des Menschen verweist. Aber nicht nur die philosophische und die theologische Perspektive ergänzen einander in der Zu sammenstellung der Vorträge, sondern auch die Aktualisierung des Begriffs »das Gute« durch den Anerkennungsbegriff, mit dem Matthias Lutz-Bachmann eine ethische Anbindung juridischer Diskurse über die Realisierung der Menschenrechte in der Weltpolitik einfordert.
Martin Seel versteht die Selbstbestimmung auf der Ebene intersubjektiver Räume zu Recht mehrdimensional, indem er das Bestimmen und das Bestimmenlassen nicht nur auf die Position von Akteuren in der Welt beschränkt, sondern auf die intrapersonale Ebene verlagert. Wie eine Person sich selbst da durch bestimmt, dass sie sich von den eigenen Motiven bestimmen lässt, ist Thema seiner Adaption des Strebensbegriffs. Die Relevanz praktischer Wahrheit erhebt er, indem er das praktische Bestimmen als der Beobachtung, wie z. B. von Wahrnehmungen, Handlungsabsichten, Lebensentwürfen, zugänglich bezeichnet. Dieser theoretische Aspekt des Praktischen macht das Erfordernis deutlich, dass Bestimmtsein von Personen durch Gründe in einer Struktur des Begründens rekonstruiert werden kann, die ihrerseits nicht in Isolation, sondern in Strukturen divergenten Strebens ausgebreitet ist.