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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

210–212

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Düsing, Klaus

Titel/Untertitel:

Fundamente der Ethik. Unzeitgemäße typologische und subjektivitätstheoretische Untersuchungen.

Verlag:

tuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2005. XIV, 334 S. 8° = problemata, 152. Kart. € 58,00. ISBN 3-7728-2369-6.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Mit diesem Buch hat Klaus Düsing, Philosoph in Köln, eine sehr nachdenkenswerte Studie vorgelegt. Er geht von dem augenscheinlichen Eindruck nicht nur einer Diversität, sondern einer Unvereinbarkeit verschiedener Ethikentwürfe aus, deren Konsequenz »ein ethischer Skeptizismus und Relativismus der Werte« (1.) sein kann. Eine prinzipielle Fundierung der Ethik dagegen fehlt. Hier genau setzt D. ein. Dazu beschreibt er im ersten Kapitel die Grundtypen der Ethik und im eng damit verbundenen zweiten Kapitel untersucht er moderne Ethikentwürfe auf ihre Zugehörigkeit zu dieser Klassifizierung. D. arbeitet drei Grundtypen heraus: 1. die Pflichtenlehre, die besonders an Kant exemplifizierte Deontologie; 2. die ethische Zweck- und Güterlehre, wie sie durch den Utilitarismus oder den Eudaimonismus deutlich wird; 3. die Tugendlehre, die für D. besonders auf die Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten hinweist. Zusammenfassend: »Diese Grundtypen der Ethik beruhen … auf der Struktur des Willens, der seine vielfachen Handlungen nach einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit einzurichten hat, der dabei immer Zwecke verfolgt und einen Zweck, den er als seinen letzten oder höchsten ansieht, und der diese Bestimmung seiner selbst zu besonderen, zweckgerichteten Handlungen immer in einer gewissen Haltung oder Einstellung vornimmt« (33).
Die Geltungsbereiche der Grundtypen kennzeichnet D. primär als entweder politische Ethik oder als Individualethik, die »entweder in empirischen oder apriorischen Prinzipien fundiert« (43) ist. Damit lassen sich nach D. die unterschiedlichen Entwürfe der Ethik auf drei Grundtypen mit je zwei primären Gestaltungsbereichen und Fundierungen ihrer Prinzipien zu rückführen. D. beschreibt die jeweils theoretisch sich ergebenen Kombinationsmöglichkeiten und kennzeichnet die gegenwärtigen Entwürfe kurz und präzis.
Die eigentliche Absicht D.s aber geht weiter, denn er will gegen das »Pluralitätspathos heutiger Tage« (129) es nicht bei der Feststellung der Unentschiedenheit zwischen den verschiedenen Ethiktypen belassen, sondern nach deren Fundamenten und ihrer Grundlegungstheorie fragen. Solch ein Fundament entwickelt D. im dritten Kapitel – entgegen den gegenwärtigen subjektkritischen Strömungen – aus der Subjektivität. Da das Selbst über die Zeiten hinweg ein Bewusstsein der eigenen Identität konstituiert und dies auch in praktischer Hinsicht tut, indem es Verantwortung für eine Tat und deren Konsequenz übernimmt, kann D. das Selbstbewusstsein als »Zentralphänomen für Handeln und Verhalten« (133) erfassen. Nach einer Reflexion der Selbstbewusstseinsmodelle findet D. im Idealtypus der voluntativen Selbstbestimmung die Grundlage für ein »holistisches, praktisches Selbstverständnis einer konkreten Person« (151). Da jedes praktische Subjekt auch den anderen Subjekten die gleiche ideale voluntative Selbstbestimmung zu schreibt, geschieht in Wechselseitigkeit die gegenseitige Anerkennung, woraus sich »das Ideal einer ethischen Gemeinschaft reiner praktischer Subjekte« (159) ableitet. Da weder die voluntative Selbstbestimmung noch die Vorstellung der idealen ethischen Gemeinschaft, die beide zum Handeln anleiten, auf reine Gehirnfunktionen zurückgeführt werden können, »läßt sich dieses Selbstverständnis des Selbst, daß es essentiell ethisch frei sei, offensichtlich nicht als Schein oder Illusion entlarven« (177). Diese hier herausgestellte Freiheit wird jedoch nicht ontologisch behauptet, da sie einem endlichen Selbst zukommt, das nur im Rahmen von Möglichkeit und Wirklichkeit handeln kann und in der Gefahr steht, seine sittliche Selbstbestimmung zu verfehlen. »Deshalb hält sich das voluntative sich bestimmende Selbst das Idealsein ethischer Gemeinschaft in der praktischen Modalität eines schlechthinnigen Sollens vor« (185). Damit hat D. das Fundament seines Ethikentwurfs herausgearbeitet und kann es im vierten und letzten Kapitel auf dessen Realisierungsgebiete anwenden.
Wenn sich »aus der Struktur des selbstbewußten Willens die verschiedenen grundlegenden Gebiete und Arten der Ethik« er geben, dann kann »die ideale voluntative Selbstbestimmung des Selbst und das darin implizierte Ideal einer ethischen Gemeinschaft« (187) als das eigentliche Fundament der Ethik erfasst werden. Da das Ideal praktische Bedeutung haben und den Willen dazu bestimmen soll, wird diese Beförderung des Ideals als gesollt vorgestellt. Darin nun gründen die ethischen Pflichten. Da die Person diese Pflichten nicht nur punktuell erfüllt, sondern auf Grund ihrer voluntativen Selbstbestimmung bestimmte Haltungen als subjektive dauerhafte Handlungsdispositionen ausbildet, entstehen die entsprechenden Tugenden. Da der Wille des handelnden Selbst in der Spannung zwischen seinen Möglichkeiten und seiner Wirklichkeit seine Zwecke formuliert, werden die ethischen Zwecke gebildet, die in einem höchsten Gut kumulieren. D. entfaltet also seine Ethik als Pflichten-, Tugend- und Zwecklehre, die er vorrangig als Ethik des Individuums fasst, ohne jedoch mit dem Ideal der ethischen Gemeinschaft die politische Dimension seines Entwurfes zu unterschlagen. In der Frage der Fundierung der Ethik präferiert er eine Allgemeingültigkeit für alle Personen. Das begründet sich für ihn aus dem Anspruch, der sich aus der idealen voluntativen Selbstbestimmung und dem Ideal einer ethischen Gemeinschaft ableitet. Wenn also auf diese Weise die Begründung der Ethik durch die Vernunft hervorgehoben wird, so werden Gefühle und Emotionen als Ausführungsbedingungen des sittlich Eingesehenen der Vernunft nachrangig. D. kann damit folgendes Fazit ziehen: »So ist das personale Selbst in seinem sittlichen Selbstverständnis und seiner sittlichen Selbstverwirklichung innerhalb der ethischen Gemeinschaft subjektivitätstheoretisch interpretiert, [… es ist] eben als ganze Person involviert; denn nur die ganze Person vermag … in ihren vielfältig verknüpften Selbstverständnisweisen eine sittliche Lebensführung, aber auch einzelne ethische Entscheidungen und Handlungen zu verwirklichen« (300).
Wenn D. seinen Entwurf selbst als unzeitgemäß bezeichnet, dann ist damit sein Versuch gemeint, »für Prinzipien eine apriorische Bedeutung zu beanspruchen« (301). Doch kann er diese Auffassung dadurch bestärken, dass ein ethischer apriorischer Prinzipiensinn »ein ideales Selbstbewusstseinsmuster für das seine Freiheit suchende, Maximen setzende und handelnde praktisch-sittliche Selbst darstellt« (302). Diesem Selbstbewusstseinsmuster kommt als Bedingung der Möglichkeit sittlicher Realisierungen durch eigenes Tun des Selbst in der Welt Verbindlichkeit zu.
D. hat einen Ethikentwurf vorgelegt, der viele gegenwärtige Ansichten in Frage stellt. Etwa, indem er darlegt, dass die zur Kritik gern herangezogene Denkfigur des sog. Naturalistischen Fehlschlusses kein Argument darstellt, da sie auf einer petitio principii beruht (86–89). Oder aber er unterläuft die oft vorgenommene strikte Trennung zwischen Ethik und Religion durch einen Hinweis wie, dass »bestimmte unauflösbare Pflichtenkollisionen und tragische Schicksale [bestehen bleiben], deren sinnhaftes Begreifen über die Ethik hinaus erst einer moralisch basierten Religionsphilosophie vorbehalten sein wird« (305 f.).– Entsprechend ist zu hoffen, dass D.s Buch zu einer breiten Diskussion führt.