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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

206–208

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Wüstenberg, Ralf K.

Titel/Untertitel:

Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2004. 720 S. 8° = Öffentliche Theologie, 18. Kart. € 75,00. ISBN 3-579-05418-X.

Rezensent:

Michael Haspel

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, anhand der Fallbeispiele Südafrika und DDR die Beziehung von politischem und theologischem Versöhnungsverständnis zu klären. Ausgangspunkt dafür ist die Beobachtung, dass im Verlaufe der jüngeren Theologiegeschichte der Versöhnungsbegriff aus der Gotteslehre weitestgehend in die Ethik verlagert wurde. Bei der Klärung der Qualität des Entsprechungsverhältnisses der beiden Aspekte der Versöhnung schließt Wüstenberg eine analogia entis aus und orientiert sich im weiteren Vorgehen an Bonhoeffers Unterscheidung von Letztem und Vorletztem.
Nach der Einleitung und umfänglichen theoretischen Vorüberlegungen (35–107) steht das südafrikanische Fallbeispiel im Mittelpunkt. In einer materialreichen Einzelstudie werden die wesentlichen Aspekte der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) rekonstruiert. In Ergänzung des inzwischen auch im Internet zugänglichen Abschlussberichts der Kommission werden in diesem Teil neben der einschlägigen Literatur auch Interviews mit verschiedenen Akteuren in die Analyse einbezogen. So entsteht ein nuanciertes Bild des Verlaufes und der Ergebnisse der Kommissionsarbeit. Der Detailreichtum macht es bisweilen schwierig, der systematischen Linie zu folgen. Unglücklich ist sicher, dass, wohl durch den langen Entstehungsprozess der Studie bedingt, wichtige neuere Literatur nicht mehr berücksichtigt werden konnte. W. warnt zwar selbst vor einer allzu starken Romantisierung der Versöhnungsleistung der Kommission, gleichwohl bleiben bei mir Bedenken, mit denen ich aber in der Diskussion in der Minderheit bin, ob nicht die Abkunft der TRC aus einem politischen Kompromiss der National Party mit dem ANC, in dem sie sich wechselseitig eine Amnestie für einen Großteil der auf beiden Seiten, wenn auch mit unterschiedlichem Umfang, begangenen schwersten Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen zugesichert haben, den Versöhnungsprozess von Anfang an eher als politisches Instrument denn als gesellschaftliche Chance vorherbestimmt hat. So notwendig eine solche politische Übereinkunft für das friedliche Zusammenleben nach der Machtübergabe an die demokratische Mehrheit war, so sehr mag man bezweifeln, ob sich dieses Geschehen als Versöhnung im emphatischen Sinne verstehen lässt. Eindrückliche Einzelfälle von gelungener Versöhnung scheinen eher das Gegenteil nahe zu legen. Es bleibt trotzdem ein Unbehagen an einer starken Täterorientierung, die ja auch dem theologischen Versöhnungs- und Rechtfertigungsverständnis in vielen Fällen bis heute eingeschrieben zu sein scheint.
Daran schließt die fast schon monographisch ausgearbeitete Fallstudie zum Umgang mit Schuld nach dem Ende der SED-Herrschaft an (240–431). In Parallelität zum Südafrika-Kapitel werden hier vor allem die Arbeit und das Material der einschlägigen Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages herangezogen und ausgewertet. Eine der herausgearbeiteten Einsichten ist, dass sich ein strategischer Gebrauch von Versöhnung in Deutschland nicht hat durchsetzen können. Dies mag auch mit der differenten politischen Ausgangslage zu tun haben.
Standen die beiden Fallstudien unter dem Motto ›Die Zeichen der Zeit wahrnehmen‹, so steht das systematische Hauptkapitel unter der Überschrift ›Die Zeichen der Zeit deuten‹, unter der eine »Theologische Synthese« angekündigt wird. War es der methodische Anspruch der empirischen Analysen der Na tur der Sache nach, dem Gehalt des Versöhnungsbegriffs in duk tiv auf die Spur zu kommen, so soll in diesem wiederum umfangreichen Teil (433–671) die Verschränkung mit dem de duktiv gewonnen theologischen Versöhnungsbegriff geleistet und so mit das am Anfang eingeführte Entsprechungsverhältnis näher bestimmt werden. Dazu wird zunächst deduktiv der theo lo gische Gehalt des Versöhnungsbegriffs in theologiegeschichtlicher und systematisch-theologischer Perspektive rekonstruiert und der Frage nach den Korrespondenzen zur politischen Di mension der Versöhnung nachgegangen. Die Ergebnisse sind dabei vielleicht etwas nüchterner als erwartet, wenn W. in diesem Schlussteil die These formuliert: »Weder ist die Strafver folgung schwerer Menschenrechtsverletzungen letztbegründbar noch ist die Amnestie mit der theologischen Kategorie der Vergebung zu verwechseln« (523). Den Verweisungszusammenhängen soll deshalb gerade in differenzierter Weise nachgegangen werden. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich etwa durch die liturgische Form vieler Sitzungen der TRC, die in der Logik ihres Ablaufes Parallelen zum christlichen Gottesdienst aufweisen (allerdings muss hier gefragt werden, ob diese strukturellen Entsprechungen zum Teil nicht so allgemein sind, dass sie auch auf einen Theaterbesuch oder ein Fußballspiel angewandt werden könnten). In den ekklesiologischen Folgerungen, die den Ab schluss der Untersuchung bilden, werden thesenartig Konsequenzen für das Handeln der Kirche formuliert. Dabei überzeugt nun die konsequente Orientierung an den Opfern. Es wird davor gewarnt, »die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders mit der politischen Integration der Täter gleichzusetzen« (670). In der Betonung des geistlichen Amtes der Kirche in Bezug auf die Versöhnung wird vielleicht der zuvor eingeforderte Entsprechungscharakter von politischer und geistlicher Dimension der Versöhnung etwas zu stark eingezogen. Den Abschluss bildet ein Plädoyer für die Rolle der Kirche als kritisches Gegenüber zur Politik.

Ohne Frage ist die methodische Anlage der Arbeit innovativ und im gegenwärtigen Feld theologischer Forschung als viel versprechend anzusehen. Meist deduktiv gewonnene theologische Sätze über Fallstudien an der »Lebenswelt« zu bewähren oder von solchen empirischen Analysen ausgehend induktive und deduktive Verfahren zu korrelieren, scheint in einem Kontext weiterführend, in dem viele Zweige theologischer Forschung durch eine einseitige methodische und implizit normative Orientierung an historisch-rekonstruktiven Verfahren eine Art Selbstimmunisierung betreiben. Obwohl ich selbst für dieses Verfahren und die »Gegenstände« der beiden Fallstudien große Sympathien habe, frage ich mich, ob der in Anschlag gebrachte Aufwand in einem sinnvollen Verhältnis zu den Ergebnissen steht. Bisweilen scheint die Arbeit methodisch und terminologisch überambitioniert, so dass die Analyse sich auf Nebengleisen verliert und der systematische Zusammenhang gelegentlich für die Leserinnen und Leser aus den Augen zu geraten droht. Hinzu kommt der schiere Umfang der Publikation. Allein der Textteil umfasst 658 Seiten, von denen viele noch durch überbordende Fußnoten und Abschnitte in Petit-Schrift kondensiert sind. Hier hätte man sich gewünscht, dass Gutachter, Reihenherausgeber bzw. das Verlagslektorat auf eine Straffung zumindest für die Veröffentlichung gedrängt hätten. In dieser Form erscheint mir die Arbeit, trotz hervorragender Einzelanalysen, als Monographie schwer rezipierbar.

Zusammenfassend lässt sich vielleicht festhalten: Es handelt sich um eine methodisch innovative und im Gehalt der Einzelstudien ertragreiche Arbeit, die durch Straffung der Darstellung für die Publikation noch gewonnen hätte.