Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

200–203

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kroeger, Matthias

Titel/Untertitel:

Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche. Über Grundriss und Bausteine des religiösen Wandels im Herzen der Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. 420 S. gr.8°. Kart. € 18,00. ISBN 3-17-018526-8.

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Der sperrige Titel dieses Werkes signalisiert die Schwierigkeiten, den gegenwärtigen Transformationsprozess der Religionen, insbesondere des Christentums, angemessen zu erfassen. Statt des einen Rucks – Bezugspunkt ist hier Altbundespräsident Herzog, dessen erste Berliner Rede als sog. Ruck-Rede in den Medien breit rezipiert worden ist – bzw. des großen Paradigmenwechsels redet Kroeger im Verlauf seiner Argumentation präziser von »Rückungen«, die notwendig sind, um die Krisen von Kirche und Theologie einerseits sowie die Gefährdungen der freien, alternativen Religiosität andererseits zu überwinden.
Mit seinen Überlegungen sucht K. weniger das Gespräch mit der akademischen Theologie – wenngleich er zentrale Diskussionen sowie insbesondere den Stand der Lutherforschung souverän in die Darstellung einfließen lässt –, sondern er argumentiert vom Ort der kirchlichen wie der christlichen Distanziertheit aus und wendet sich vorrangig an diesen Teil der Kirchenmitglieder so wie an Menschen aus der alternativ-religiösen Szene. Dabei ist sein Anliegen ein doppeltes: K. will die traditionelle Theologie und Kirchlichkeit, die er immer wieder mit Begriffen wie »verkarstet«, »verpuppt«, »versteinert« u. a. charakterisiert, aufbrechen, auf ein dem gegenwärtigen religiösen Bewusstsein entsprechendes höheres Niveau führen – K. spricht häufig von einem »höheren Plateau« – und auf diese Weise die Erfahrungsschätze der Tradition vergegenwärtigen. Auf der an deren Seite sieht er die alternative Religiosität in hohem Maße gefährdet und verwildert – besonders kritisch benennt er die Gefahren einer Selbstvergottung von Mensch und Kreatürlichem – und hält aus diesen Gründen angesichts eines drohenden seelischen Vakuums eine Rückbesinnung auf traditionelle religiöse Leitbilder für unaufgebbar. »Freie Religiosität und Tradition … aufeinander zu beziehen, ist daher die entscheidende Aufgabe.« (19)
Die aus Sicht K.s notwendige Transformation der christlichen Tradition verdeutlicht er an zentralen Beispielen der Gotteslehre und der Christologie. Die Ausführungen zur Gotteslehre sind durch den Gegensatz von theistischer und non-theistischer Rede von Gott geprägt, wobei K. von einem »epidemisch sich vollziehenden Zusammenbruch des Theismus als gültiger und verbreiteter Weltanschauung und religiöser Vorstellungsform« (77) ausgeht. Die personale Rede von Gott sowie insbesondere die Vorstellungen der klassischen Prädestinationslehre und die Hoffnungen auf einen »eingreifenden Gott« – implizit wird damit jede Form des Bittgebets überflüssig – werden aus Gründen veränderter weltanschaulicher Voraussetzungen wie auch aus innertheologischen Überlegungen heraus kritisiert und als überholt bezeichnet. Demgegenüber betont K. die im Anschluss an mystische Traditionen aufzunehmenden un- und überpersönlichen Elemente im Gottesbegriff, welche die Personvorstellung sprengen und das Göttliche als Geheimnis erahnen und in Umrissen verstehbar werden lassen.
Allerdings überzeugt die Argumentation hier nur bedingt: Der Einspruch gegen eine naive personale Vorstellung und Rede von Gott im Sinn des von ihm mehrfach zitierten Bonhoeffer-Zitates: »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht« (DBW II, 112) ist theologisch berechtigt und nicht zuletzt vor dem Hintergrund des biblischen Bilderverbotes, das in der Argumentation K.s jedoch kaum eine Rolle spielt, aufzunehmen. Ausgehend vom Bilderverbot ist somit jede Rede von Gott kritisch zu hinterfragen, und es ist die Angemessenheit der jeweiligen symbolischen Redeformen zu reflektieren. Die von K. in seiner Argumentation unterstellte Annahme, dass un- bzw. überpersonale Redeweisen – die hierin liegende Differenz wird ebenfalls zu wenig verdeutlicht – per se angemessener als personale Redeweisen sind, müsste hingegen erst erwiesen werden. Denn auch diese Redeformen sind Symbolisierungen des begrifflich nicht festlegbaren Geheimnisses der Welt und an vielen Stellen als ebenso problematisch und unzureichend wie eine naiv personale Redeweise herauszustellen. Leider werden die hiermit aufgeworfenen hermeneutischen Fragen nicht grundsätzlich thematisiert, so dass das Plädoyer für einen non-theistischen Glauben an Gott und die Forderung nach entsprechenden Redeformen nur bedingt überzeugen.
Im Blick auf die Christologie zielt K. auf eine tiefgreifende Revision der dogmengeschichtlichen Tradition: Er stellt die historische Berechtigung der klassischen altkirchlichen Dogmen heraus, deren Gebundenheit an die spätantike Substanzmetaphysik es jedoch zu überwinden gilt. Mit der Aussage: »In Jesus von Nazareth erschien die göttliche Wirklichkeit auf neue Weise und wurde neu sichtbar, erkennbar« (128) will er den Gehalt dieser Dogmen ernst nehmen und von hier aus eine Fortschreibung der Christologie entwickeln, die wesentlich die Menschheit Jesu als Ausgangspunkt seiner religiösen Bedeutung ernst nimmt. Als Konsequenz dieser Position postuliert er einen Wandel von der Absolutheit zur Unbedingtheit des Anspruchs Christi, d. h. Christus ist nicht als einziger Weg zu Gott, sondern als ein authentischer, gültiger und wahrer Weg zum Geheimnis des Göttlichen zu verstehen.
Des Weiteren führt er inzwischen recht traditionelle Einwände gegen die Vorstellung des stellvertretenden Opfertodes Christi an, wobei K. hier überzeugend das bereits bei Luther aufweisbare Motiv des Kampfes Christi mit den Mächten als alternative Deutung des Kreuzes entfaltet. In produktiver Aneignung und Weiterführung der Theologie Luthers wird hier das Gesetz als die oberste der gegen Christus streitenden Mächte und die Brechung der Macht des Gesetzes durch Christi Geschick herausgearbeitet. Die zur theologischen Begründung des eigenen Vorgehens hier und an anderen Stellen verwendete Formel »mit Luther über Luther hinaus« (174 u. a.) wird in diesen Passagen überzeugend verdeutlicht.
Klärungsbedürftig und fragwürdig bleiben die Konsequenzen der Ablehnung der Einzigartigkeit Christi und die sich aus diesem Ansatz ergebende pluralistische Religionstheorie. So drängt sich die Frage auf, inwieweit Christus als authentischer Weg zu Gott zu verstehen ist, wenn andere, möglicherweise entgegengesetzte Wege als ebenso authentischer Ausdruck bezeichnet werden könnten. Die Frage nach theologischen Beurteilungskriterien sowie der sich nicht zuletzt im Blick auf die folgenden Kapitel aufdrängende Eindruck einer christlich geprägten, synkretistischen Religionsauffassung signalisieren einen grundlegenden Gesprächsbedarf mit K.
Im umfangreichsten vierten Kapitel versucht K. schließlich im Dialog mit der freien Religiosität auf der Grundlage der zuvor aufgezeigten non-theistischen Glaubensweise und einer Fortschreibung der Christologie die Grundbedeutung reformatorischer Theologie zu reformulieren. Die theologische Legitimation dieses Vorgehens wird im exkursartig angefügten siebten Kapitel unter dem Stichwort »Gestaltwandel des Gesetzes« erörtert, in welchem »Gesetz« als Grundwahrheit des Lebens in historisch wechselnder Weise aufgezeigt und die lutherische Freiheit vom heilsnotwendigen Gesetz als Anweisung zu einer theologischen Transformation der Grundworte des Glaubens fruchtbar gemacht werden.

K. möchte die theologischen Grundbegriffe der Reformation als Angebote für das freie religiöse Bewusstsein plausibel machen, indem er die Bedeutung der Kategorien von Gnade und Gesetz, die Differenz von religiös und göttlich, den Umgang mit Schuld, Sünde und Leiden sowie das Verhältnis der religiösen Wahrheit zum Politischen aufzeigt. In diesen Ab schnitten gelingt es jeweils, Gefährdungen oder auch Defizite der religiös alternativen Szene aufzuzeigen und den Orientierungsgewinn der genannten reformatorischen Kategorien aufzuweisen. K. führt hier in beeindruckender Weise einen Dialog mit kirchlich und christlich Distanzierten mit dem Ziel, die Schätze der theologischen, speziell der reformatorischen Tradition für die heutige Suche nach dem göttlichen Geheimnis des Lebens fruchtbar zu machen. Gleichzeitig wird in diesen Passagen die »Transformationsbedürftigkeit und -würdigkeit des reformatorischen Denkens« (273) im Sinn der eingangs geforderten »Rückungen« deutlich. In den Kapiteln 5 und 6 werden die praktisch-theologischen Konsequenzen dieses Programms aufgezeigt: Kapitel 5 fragt nach einem dieser theologischen Perspektive entsprechenden offenen Modell pastoraler Orientierung, während Kapitel 6 in seelsorgerlicher Zuspitzung Stufen religiöser Gewissheit als Quellen des Mutes benennt. Speziell in diesem Kapitel, vereinzelt auch an anderen Stellen des Buches, wird die Ebene theologischer Reflexion zu Gunsten unmittelbarer religiöser Rede verlassen. K. zitiert und interpretiert religiöse Lyrik, verweist auf Musikstücke und lässt nicht zuletzt Gesangbuchverse in den Text einfließen, der so eine unmittelbar ansprechende, seelsorgerliche Zuspitzung erhält.

Die Geschlossenheit dieses Entwurfs von der religionsdiagnostischen Einleitung über die begründend theologischen Passagen bis hin zur praktisch-theologischen Zuspitzung sowie dessen Innovationspotential sind beeindruckend. Mit diesem Profil provoziert das Werk kritische Anfragen und Einwände. Neben den bereits genannten Fragen ist gegenüber dem Gesamtkonzept kritisch anzumerken, dass diesem Entwurf offenkundig ein recht traditionelles, heute problematisch gewordenes Fortschrittsdenken zu Grunde liegt.

Wiederholt auftauchende Begriffe wie »Vorwärts gehen auf ein neues Plateau«, »Fortschreiten«, »Weiterdenken in einem neuen Paradigma«, die »Ruck«-Metaphorik sowie die dezidierte Charakterisierung des Fortschritts als »einer legitimen lutherischen, wenn auch beim historischen Luther noch gehemmten Kategorie« (362) geben Anlass zu solchen Fragen. Obgleich K. den eindimensionalen Pragmatismus sowie die postmoderne Beliebigkeit der Gegenwart deutlich kritisiert, scheint er davon überzeugt zu sein, unter Einbeziehung der Tradition ein neues, höheres »Plateau« theologischer Reflexion und religiösen Wissens und damit eine deutliche Überbietung der Tradition aufzeigen zu können. Somit ist mit K., der sich nicht zuletzt in diesem Punkt deutlich als Schüler Gogartens zu erkennen gibt, ein theologischer Dialog über den Begriff des Fortschritts aufzunehmen, um Klärungen zu erzielen für ein Weiterdenken, Präzisieren und auch Korrigieren der von ihm aufgezeigten Perspektiven.