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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

191–193

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Grunewald, Eckhard, Jürgens, Henning P., u. Jan R. Luth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. 16.–18. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer 2004. X, 498 S. m. Abb. gr.8° = Frühe Neuzeit, 97. Lw. € 116,00. ISBN 3-484-36598-6.

Rezensent:

András Szabó

Die Johannes a Lasco Bibliothek Emden ist eine Forschungsstätte, deren Augenmerk insbesondere dem Kulturerbe des calvinistischen Protestantismus gilt. Sie erfüllt eine unersetzliche Mission für die Forschung, trägt sie doch zur Entkrampfung jener einseitigen Denkungsart bei, die in den späteren Entwicklungen der deutschen Geschichte und Kirchengeschichte ihren Grund haben. Der heutige Durchschnittsbürger in Deutschland weiß ja nicht einmal mehr mit dem Begriff »reformiert« etwas anzufangen, und selbst unter den Forschern meldet sich mittlerweile eine Art Abneigung gegen dergleichen Themen, wobei es dennoch offenkundig ist, dass die Calvinisten bei Ausführungen der Geschichte und Literatur des 16. bis 17. Jh.s unumgehbar sind. Die Bibliothek hat von 2001 bis 2003 drei Konferenzen veranstaltet (als Teil ihrer Symposien-Serie von ähnlicher Thematik), deren Ergebnisse in dem hier besprochenen Band vorliegen. Über die tatsächlich gehaltenen Vorträge hinaus umfasst der Band auch weitere Aufsätze. Das Thema ist von unschätzbarer Relevanz: Der französischsprachige Genfer Psalter von Clément Marot und Théodore de Bèze (1562) wurde mit einem Schlag überall bekannt und beliebt, wo auch die helvetische Reformation Verbreitung fand. Der Psalter passierte mittlerweile sogar die konfessionellen Grenzen. Die in mehrere Sprachen übersetzte Sammlung hatte eine dauernde Auswirkung auf die Musikkultur und Literatur zahlreicher Völker. So gebührt ihr ohnehin jene besondere Aufmerksamkeit, mit der sie in diesem Band angesprochen wird. Die Aufsätze wenden sich zwei zentralen Themenbereichen zu, im ersten Teil steht der Genfer Psalter selbst im Mittelpunkt, zunächst werden da die Fragen der Vorgeschichte, der Entstehung und der Verbreitung behandelt und dann auch noch jene der Theologie und der Musik. Der zweite größere Abschnitt befasst sich mit der Rezeption des Genfer Psalters, das heißt, die meisten Arbeiten setzen sich mit der deutschen Rezeption auseinander, aber die Aufnahme in der Schweiz und in Holland bleiben ebenfalls nicht ausgespart. Wegen der Komplexität des Gegenstandes erfassen die Arbeiten Fragen der Theologie, der Kirchen-, Liturgie-, Musik-, Literaturgeschichte und noch vieles mehr. Es rührt wohl von den Veranstaltern der Konferenzen her, dass die Analysen und Vergleiche überwiegend einen einzigen Psalm, den 23., in den Blick nehmen, welcher Umstand viel zur Kompaktheit des Bandes beiträgt.
Zu einer eingehenderen Besprechung des mit der Einleitung von Eckhard Grunewald und Henning P. Jürgens insgesamt 34 Beiträge einschließenden Sammelbandes erwiese sich der hier zur Verfügung stehende Raum als zu eng, deshalb hebe ich nur die Vorzüge einzelner Studien, die ich besonders hoch veranschlage, hervor (freilich in eigener Verantwortung für die Subjektivität). Jan R. Luth untersucht die Psalmenedition 1539 in Straßburg, indessen legt Robert M. Kingdoms englische Arbeit den Gebrauch der Psalmen im Genf Calvins dar; beide geben gute Beispiele dafür ab, dass noch viel Neues in Grundfragen des Genfer Psalters auch nach so langer Zeit erschlossen werden kann. Die großartige Analyse von Herman J. Selderhuis (Singende Asylanten: Calvins Theologie der Psalmen) betont das Asylanten-Motiv: Wie einst David, so war auch Calvin im 16.Jh. Asylant, und die protestantischen Länder in Europa nahmen die französischen und niederländischen Auswanderer – die den Genfer Psalter in Ehren hielten – in großen Massen auf. Klaus Garber lädt zur Umschau im literarischen Alltag um 1600 ein (Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projekts in Deutschland um 1600), während Ralf Georg Czapala und Lars Kessner das Werk der beiden Psalmenübersetzer Paul Schede und Ambrosius Lobwasser erläutern. Die populären Lobwasserschen deutschen Psalmen (1573) wurden rasch überholt, so brauchte es die Abfassung von Martin Opitz, dem Initiator der deutschsprachigen literarischen Wiedergeburt im 17. Jh. – darum geht es im Artikel von Jörg Ulrich Fechner. Fechner ist mit den europäischen Zusammenhängen und Verbindungen (obwohl andere Autoren darauf ebenfalls hinweisen) vertraut, bei ihm erst tauchen endlich Namen von Übersetzern auf, denen in diesem Band wegen ihrer nichtdeutschen, nichtschweizer bzw. nichtholländischen Abstammung kein Raum zur Verfügung steht. Seine Gedankenfolge hat nur einen einzigen Schwachpunkt, nämlich dass er dem Luthertum in der Geburtsstadt Opitzens eine übertriebene Bedeutung beimisst, während er sich mit dem Calvinismus des Dichters offensichtlich schwer tut. Die Abschnitte über die schweizerische und holländische Rezeption verfolgen bis in das 18. Jh. die Entwicklungen des Genfer Psalters im Alltag der Kirche und im kulturellen Leben dieser Länder. Hans-Jürg Stefan stellt den Kampf Johann Kaspar Lavaters gegen die Lobwasserschen Psalmen dar, daneben gibt Roel A. Bosch ein Kapitel seines früheren Buches in gekürzter Form bekannt, welches von der neueren holländischen Übersetzung des Psalters im Jahre 1773 handelt.
Der Band im Ganzen ist mit seinen fast 500 Seiten ein unersätzliches Standardwerk für die Interessenten. Schon der Verlag und die anspruchsvolle Serie geben die Garantie für hohe Qualität. Trotzdem habe ich auf manche Mängel aufmerksam zu machen. Im Falle eines Sammelbandes ist das Fehlen eines Literaturverzeichnisses oder einer Gesamtbibliographie noch tragbar, jedoch schadet es der Handhabbarkeit viel, dass sich auch kein Namensregister findet. Und mit Vorsicht nur sei angemerkt (und darum wissen die Herausgeber des Bandes sehr wohl), dass sich eine vollständige Geschichte des Genfer Psalters ohne die sonstigen Übersetzungen nicht schreiben lässt.
Dies könnte in den Emdener Konferenzen oder in einem an deren Rahmen thematisiert werden. Einen willkommenen An lass bietet hierzu das 400-jährige Jubiläum der Drucklegung der ungarischen Übersetzung in Herborn von Albert Molnár (ebenfalls ein als Asylant in Deutschland lebender Flüchtling) im Jahre 2007. Die Rezeption dieses Psalters hat eine andere Geschichte als beispielsweise jene des deutschen, weil die 150 Psalmen (mit kaum verändertem Text) bis auf den heutigen Tag einen Teil des reformierten Choralbuches bilden, obwohl die französischen Melodien von der ungarischen Melodik erheblicher abweichen als die deutschen. Ebenso verdienten die übrigen Übersetzungen des Genfer Psalters, unter anderen die polnische und die tschechische, mehr Beachtung. Erst durch einen solchen zweiten Band würden die europäischen Bezüge der Geschichte des Genfer Psalters klar erkennbar.