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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

183–186

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Osten-Sacken, Peter von der

Titel/Untertitel:

Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas »Der gantz Jüdisch glaub« (1530/31).

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 351 S. gr.8°. Kart. € 28,00. ISBN 3-17-017566-1.

Rezensent:

Martin Stöhr

Das Thema »Luther und die Juden« wurde erst umfassender und kritisch diskutiert, nachdem auch der christliche Judenhass seinen tief grundierenden Beitrag zu einer Politik geleistet hatte, die alle Strömungen völkischer, biologischer, ökonomischer, religiöser und politischer Judenfeindschaft benutzt und zur Ermordung des europäischen Judentums geführt hatte. Nicht nur Luthers Stellung zu den Juden, ihre Begründungen und Wandlungen sind aufzuklären, auch sein theologischer Beitrag zum neuzeitlichen Antisemitismus. Luthers Stimme ist im umfangreichen Chor christlicher Lehre und Verkündigung eine besonders unangenehme Stimme. Es geht darüber hinaus auch um eine Wirkungsgeschichte in den Kirchen, die der verfolgten Mutter und Schwester Israel die Leben rettende Hilfe verweigerten – die wenigen Retter und Retterinnen seien nicht vergessen! Glaube und Ethos stehen auf einem Prüfstand, der sie nicht unverändert in eine neue Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel entlässt.
Peter von der Osten-Sacken gehört zu denen, die zur Erneuerung dieser Beziehungen wie wenige andere beigetragen haben. Seine jahrzehntelangen wissenschaftlichen wie seine praxisbezogenen Arbeiten belegen das. Unter seiner Leitung wird das Institut »Kirche und Judentum« mit seinen zahlreichen Forschungen und Lehrveranstaltungen, mit seinen Schülern und Schülerinnen und Publikationen zu einem Zentrum der Erneuerung der jüdisch-christlichen Beziehungen. Die Buber-Rosenzweig-Medaille des Jahres 2005 unterstreicht seine Bedeutung.
Wie kommt es zu Luthers Äußerungen über die Juden, »deren Aggressivität, ja Gehässigkeit, in beträchtlichen Teilen jegliches Maß überschreitet?« Der Vf. sichtet zunächst (Kapitel I) Positionen und Erträge der Forschung zu diesem Thema. An ihrem Anfang steht der in Auschwitz ermordete Breslauer Rabbiner Reinhold Lewin. Seine Dissertation an der Philosophischen Fakultät in Breslau (1911) wurde von der dortigen Evangelisch-Theologischen Fakultät preisgekrönt. Beachtung fand sie in der protestantischen Theologie erst, nachdem Luthers antijüdische Schriften in der NS-Zeit brauchbar geworden waren (zur neuzeitlichen Rezeption und Wirkung siehe Kapitel VII). Auch nach der Schoah konstatiert der Vf. eine stark apologetische Deutung von Luthers Judenschriften. Er hält deren Interpretation für »mehr oder weniger geklärt oder erschöpft«. Wie aber steht es mit der Zuordnung zu Luthers gesamter Theologie, besonders zu seiner Schriftauslegung? Dieser Frage mit einer exegetischen und historischen Genauigkeit nachgegangen zu sein, macht Gewicht und Gewinn seines Buches aus. Es stellt sich heraus, dass die Frage nach Luthers Quellen, vor allem nach seinen jüdischen, keineswegs so klar ist, wie mancher Autor es konstatiert. Warum z. B. lehnt Luther ein lebendiges Gespräch mit Josel von Rosheim, dem Sprecher der Judenheit, ab? Dieser hatte in Erinnerung an Luthers judenfreundlichere Schrift von 1523 um eine persönliche Begegnung 1537 ersucht, wohl hoffend, dass Luther sich gegen die Vertreibung der Juden aus Sachsen ein Jahr zuvor durch den Kurfürsten einsetzen würde. Das ist eine der vielen Fragen, die nicht mit dem psychologisierenden Hinweis auf Luthers Enttäuschung oder Altersstarrsinn (deren relatives Recht der Vf. nicht bestreitet) zu beantworten ist, aber auch nicht mit der These einer ungebrochenen Kontinuität seiner Haltung. Luther bleibt gegenüber Rosheim bei seiner Weigerung, bei der Regierung zu intervenieren aus theologischen Gründen und auf Grund seiner Hermeneutik der Geschichte und Bibel Israels. Er will und vertritt eine »Vergegnung« (M. Buber), keine Begegnung auf Augenhöhe.

Dieselbe Aussage gilt für seine mehrfach, aber ungenau erinnerte Begegnung mit »den Juden« in Gestalt von drei Rabbinern. Er sieht in ihnen Feinde Gottes, was er in seiner Auslegung von Psalm 109 entfaltet. Die Sicherheit der christlichen Erfüllung und des jüdischen Defizits begründet er in einer nur christologischen und trinitarischen Auslegung beider Teile der Bibel. Anders kann er das Alte Testament nicht lesen. Er äußert sich in einer mit den Jahreszahlen steigenden Klimax von anfangs Fragen, in die sich Trauer und Hoffnung mischen, dann Vorhaltungen an die Adresse der Juden: Sie erkennen ihren Messias nicht, sie lehnen ihn ab, sie lästern, ja verfluchen ihn und Gott. Diese »Ding« sind es, die uns Christen von den Juden »nicht zu leiden sind«. Wie in einer Schlüsselszene beschreibt der Vf. Luthers Theologie und Praxis (116 ff.) anhand einer Neuinterpretation von Luthers knappem Credo in »Drei Symbola oder Bekenntnis des Glaubens« von 1537. Die Gegenszene, Luther wohl nicht unbekannt, beschreibt 1530 ein Nürnberger Anonymus. Er lehnt Gewalt in religiösen Fragen ab, ja, verlangt zum Kennenlernen den gegenseitigen Gottesdienstbesuch in Kirchen und Synagogen (32).

In einer strengen Systematik entfaltet der Vf. seine Untersuchungen. Er bezieht vor allem die großen Vorlesungen und die zahlreichen Auslegungen biblischer Texte in seine Untersuchung ein. Das wird dem »Wort-Gottes-Theologen« Luther gerecht (Kapitel II). Nach dem Überblick über den Forschungsstand beginnt der Vf. mit einer ebenso breit angelegten wie subtilen Analyse von Luthers erster akademischer Vorlesung »Dictata super Psalterium« aus den Jahren 1513 bis 1515, in denen dieser auch eine erste Entdeckung von Gottes nicht buchhalterischem, sondern gnädigem Rechtfertigungshandeln macht. Die Kreuzigung Jesu und das mit ihr doch abgelöste Bauen auf eigene Gerechtigkeit sind für Luther eine entscheidende Art von »Urverhalten« oder »Urhandlung« der Juden. Der Weg zu einer anderen Sicht wird in den Jahren 1514 bis 1523 erkennbar. Er fängt mit seiner »humanistischen« Stellungnahme »aus Glaubensgründen« im Konflikt zwischen Reuchlin und Pfefferkorn an und geht über Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16 zur jüdisch stark, weil neu tönend, begrüßten Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«. Nach den unter den Stichworten »Irritationen«, »Verhaltenes Willkommen« und »Verletzter Glaube – enttäuschte Hoffnung – erstarrte Liebe« vorgelegten Interpretationen einzelner Texte und Aktionen Luthers kommt der Vf. zu den ab 1538 erscheinenden massiv antijüdischen Schriften, ihrer Hermeneutik der Bibel und ihren Motiven.

Das wirft im III. und IV. Hauptteil des Buches die Frage auf, welche Rolle der 1522 getaufte Konvertit Antonius Margaritha und sein Buch »Der gantz Jüdisch glaub« spielten, zuerst 1530 erschienen, in dem Jahr, in dem es in Augsburg auch zur Konfrontation mit Josel von Rosheim kam. Luther benutzt diese Sekundärquelle »ungeprüft« und unkritisch. Der Vf. stellt die Person Margaritha vor, geht der sehr komplizierten Editionsgeschichte nach, referiert ausführlich die sich wandelnden Urteile über Margaritha und schließlich Aufbau und Inhalt des Buches. Margaritha bedient traditionelle Kritikpunkte der Christen gegenüber den Juden. Dabei stützt er sich auf genauere Kenntnisse des Judentums, als sie sonst gegeben waren. Er schildert und zitiert z. B. die Gebete, Feste und Gebräuche sowie die jüdischen Vorwürfe zum Leben Jesu. Trotz oder wegen seiner dogmatisch-christlichen Vorentscheidungen gilt er Luther als authentischer und glaubwürdiger Zeuge für das, was Juden tun und glauben. – Wie Margaritha seine jüdische Tradition deutet und wie Luther ihn benutzt, das wird vom Vf. mit akribischer Differenziertheit und Fairness dargestellt. Er lässt Margaritha insofern Gerechtigkeit widerfahren, als er ihn nicht zum bloßen Prediger »giftigen Hasses« reduziert. Die überlieferten christlichen Vorurteile beziehen sich vor allem gern auf das Alenu-Gebet, auf die Benennung der Christenheit als feindliches »Edom« (nota bene: H. Heine wird das christliche Edom in einem Gedicht von 1824 um Verständnis für ein sich wehrendes Israel bitten), auf Wucher und Proselytismus.
Luther erhebt entgegen seinem früheren Wissen, dass die Vorwürfe des Ritualmordes und der Brunnenvergiftung »Narrenwerk« seien, »das Schreckensarsenal mittelalterlicher Judenverleumdung doch wieder in den Rang glaubwürdigerer ›Historien‹«. Luther denkt in den Kategorien eines
corpus christianum: Dazu gehört die Arbeitsteilung zwischen kirchlicher Ketzererkennung (deren Teil, wie üblich, auch bei Luther eine hemmungslos praktizierte Denunziation ist) und der staatlichen Ketzerverfolgung. Konsequent ruft er die Obrigkeit zum gewaltsamen Handeln gegen die Juden auf, deren »Herren«tum im Lande behauptet, aber nicht nachgewiesen wird. Luther legitimiert seine antijüdische Polemik mit seiner Auslegung der Bibel, die in dieser Frage »Eisegese« ist, sowie der prinzipiellen Generalisierung einzelnen, jüdischen Fehlverhaltens. Die natürlich gegebene Polemik von Juden gegen Lehren und Praxis der Christen wird essentiell als Werk des Teufels betrachtet. Sie ist also keiner argumentativen Antwort oder gar Reflektion auf Seiten der Christen wert.
Der Vf. fasst auf S. 225 f. die antijüdischen Stereotypen zusammen und unterstreicht, dass Luther »in seinen antijüdischen Schriften in auffälliger Dichte verbal alles das vollzieht, was er gerade dezidiert den Juden vorwirft«. Das ist die Kehrseite seiner »eigenen Zweifel«, die er im jüdischen Nein zu bekämpfen versucht.
In einem weiteren Hauptteil (V) fragt der Vf. nach der theologischen Kontinuität und Diskontinuität in Luthers Stellung zu den Juden. Dabei spannt er in einer ertragreichen Analyse die Schriften zur Obrigkeit und zu den Türken in den Rahmen seiner Untersuchung ein. Eine Ehrenrettung, besser Zukunftsfähigkeit der lutherischen Theologie sieht er ansatzweise in Luthers frühen Schriften und nicht zuletzt in den Schülern Justus Jonas, Andreas Osiander, Urbanus Rhegius (VI). Eine »Ortsbestimmung Luthers« zeigt, dass er anfangs auf eine Integration der Juden hofft. Je stärker er das »Monster superbia« nicht nur in sich, sondern außer sich in den Juden sieht, um so legitimer wird der Kampf mit allen Mitteln gegen sie. In ebenso differenzierten wie kritischen Thesen fasst der Vf. den Ertrag seiner Untersuchungen im Gespräch mit unterschiedlichen Ansätzen der zeitgenössischen Antisemitismusforschung und den Bemühungen in Theologie und Kirche zur Erneuerung der Beziehungen zwischen Christen und Juden zusammen (VIII und IX). Die gemeinsame Heilige Schrift ist »Aporie und Aufgabe zugleich«. Die von Luther vollzogene christologische Auslegung des Alten Testaments und ihr Deutungsmonopol lässt den ersten und bleibenden Adressaten vergessen, ja verdrängen: Israel, Gottes bleibend erwähltes Volk.


Der Vf. schließt mit dem Hinweis auf Luthers letzte Einsichten, die er im Blick auf Israel nicht zu seiner Hermeneutik werden ließ: Man könne Vergil, Cicero oder die Propheten nicht verstehen, wenn man nicht »lange Jahre Hirte, Bauer, Staatsmann« oder Gemeindeleiter gewesen sei. Den Juden gegenüber war Luther der Besitzende und nicht der »Bettler; das ist wahr.« Die Konsequenz formuliert das anzuzeigende Buch mit seiner sprachlichen wie analytischen Klarheit und seiner bisher so noch nicht vorgelegten exegetischen, historischen und systematischen Untersuchung der Quellen sowie der riesigen Sekundärliteratur als Aufgabe: »Mit Luther gegen Luther«. Der Vf. zeigt überzeugend, wie dergleichen aussieht.