Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1998

Spalte:

336–338

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Malek, Roman]

Titel/Untertitel:

"Fallbeispiel" China. Ökumenische Beiträge zu Religion, Theologie und Kirche im chinesischen Kontext.

Verlag:

Sankt Augustin: China-Zentrum; Nettetal: Steyler 1996. 693 S. gr.8°. Kart. DM 67,­. ISBN 3-8050-0385-4.

Rezensent:

Winfried Michael Glüer

Dieser Band wird als Festschrift vorgestellt, die der Ökumenische Arbeitskreis des Evangelischen Missionswerks und des Deutschen Katholischen Missionsrates seinen bisherigen Vorsitzenden widmet. Der Arbeitskreis hat seit fast drei Jahrzehnten bestanden, zunächst als ’Notmaßnahme’, da nach der kommunistischen Revolution in China und besonders nach der Kulturrevolution die kirchlichen Kontakte völlig abgebrochen waren. Von der kontinuierlichen Beschäftigung mit China sind Anstöße für die evangelische und römisch-katholische Kirche zur Wiederaufnahme von Beziehungen mit den Kirchen und für das Verständnis der geistigen, religiösen und politischen Situation in China ergangen, die haben Wege zu weiterem ökumenischen Handeln geebnet. Die thematische Breite der Auseinandersetzung des Arbeitskreises mit China wird in dem Bande deutlich, auch wenn nur ein Fünftel der 30 Beiträge unmittelbar aus der Feder von Mitgliedern des Arbeitskreises stammen. Bei den übrigen Beiträgen handelt es sich zum großen Teil um Nachdrucke von Aufsätzen, zumeist aus der Zeitschrift des China-Zentrums in St. Augustin, China heute.

Den räumlich breitesten Teil der thematischen Einheiten nimmt die Behandlung der Geschichte der Begegnung des Christentums mit China ein mit einem Spektrum, das von der Jesuitenmission über die Verflechtung der Mission mit der aggressiven Politik der europäischen Kolonialmächte im vergangenen Jahrhundert bis zu einer Rezeption christlicher Motive in der Literatur der Zeit des Umbruchs der "Bewegung vom 4. Mai" (1919) reicht. In der Folge kam es unter den jungen chinesischen Intellektuellen zu einer Antichristlichen Bewegung. Ihre Wirkungen bleiben bis in die Gegenwart im praktischen Vollzug der Religionspolitik der Volksrepublik China aufweisbar.

Die kritische Haltung einzelner Missionare gegenüber dem Menschenhandel und der Ausbeutung chinesischer Arbeitskräfte in Übersee sowie das soziale Engagement der Mission, die Einführung von Schulen und Krankenhäusern, wie sie Richard Deutsch beschreibt, vermochten eine aufkommende Gegenbewegung nicht aufzuhalten. Die sich hier auftuende Zwiespältigkeit in der Beurteilung der Missionsgeschichte nimmt Georg Evers weiterführend und zugleich außerordentlich differenziert in seiner Untersuchung der Rolle der christlichen Mission als Werkzeug kultureller Veränderung in China auf.

In einem weiteren thematischen Abschnitt werden Gestalten der Begegnung und des Dialogs vorgestellt. Von besonderem Interesse sind dabei die sogenannten Kulturchristen Chinas, die durch ihre philosophische Arbeit und Auseinandersetzung mit christlicher Theologie zum christlichen Glauben fanden. Arnold Sprengler stellt Liu Xiaofengs Beitrag "zu einer neuen Vision für China" vor. Liu wendet sich häufig gegen die chinesische Tradition und überträgt westliche Werte in den chinesischen Kontext, ohne zu fragen, ob nicht eine Beziehung auf das Erbe Chinas möglich und notwendig ist.

Im folgenden Teil, "Herausforderungen heute", geht es vor allem um das Rechtsverständnis in China (Stephan Puhl), Theorien über Religion im heutigen China, Probleme der Religionspolitik und um die Spannungen zwischen Tradition und Modernisierung. Zhuo Xinping stellt Theorien über Religion in China aus der Sicht chinesischer Religionswissenschaftler in den 80er Jahren vor. Eine pauschale Sicht von Religion als "Opium des Volkes", die (nicht nur) in der Kulturrevolution zu schweren Übergriffen geführt hat, ist einer differenzierteren Stellungnahme gewichen, die die vom frühen Marx zugestandene Funktion der Religion als "Protestation" anerkennt. Mit der Festlegung auf ein am Gottesbegriff festgemachtes "ontologisches" Religionsverständnis und seine Widerlegung durch Engels Anti-Dühring im Sinne des Feuerbachschen "Projektions-"Begriffs, stehen Zhuo und die in China übliche Religionstheorie ganz auf dem Boden der marxistischen Religionskritik. Bedeutsam aber ist, daß Religion für Zhuo und andere Religionswissenschaftler in ihrem anthropologisch-soziologischen Bezugsrahmen nicht irrelevant wird. Denn sie ist tief in die Kulturgeschichte der Menschheit verwoben und hat wesentlich auf ihre Entwicklung eingewirkt. Zhuo führt hier Anstöße seines Lehrers Zhao Fusan fort, die bei allen bestehenden Problemen des Dialogs zwischen Religion und Marxismus der Religion ein gewisses Maß an Legitimität zuweisen. Was hier im Jahre 1988, auf dem Wege der Öffnung und der Reformen Chinas gesagt wird, scheint angesichts einer manchenorts spürbaren Hinwendung auf ideologisch fixierte Positionen nicht überall rezipiert zu sein und schlägt sich in unterschiedlicher Weise in der Praxis der Religionspolitik nieder.

Der letzte Teil des Sammelbandes enthält Darstellungen der aktuellen Lage der Kirchen in der Volksrepublik China. Dabei werden auch Probleme, die sich auf dem Wege zur verfaßten Kirche und hinsichtlich der Verwirklichung der Religionsfreiheit in China stellen, nicht verschwiegen. Komplementär dazu geben zwei Artikel Einblick in das unmittelbare Leben und die Spiritualität der evangelischen und katholischen Gemeinden als Experimentierfeld kontextueller Theologie. Die Lage der katholischen Kirche wird eingehend erörtert unter dem Gesichtspunkt des Kirchenrechts und der Gefahr einer Kirchentrennung. Hier kommt China als das "Fallbeispiel", wie es der Titel umschreibt und das Vorwort erläutert, im Sinne eines "Bewährungsfalls für den Glauben" ­ und für die Kirche als Ganzes ­ in den Blick.

Der Titel "Fallbeispiel" für einen so reichhaltigen Band, der den begrenzten Bereich einer case-study mit seiner umfassenden Gewichtigkeit weit überschreitet, erscheint trotz der Erläuterungen des Herausgebers nicht als glücklicher Einfall. Es läßt sich nicht jeder Autor oder Beitrag aus der gesamten Weite und Vielfalt dieses Bandes im einzelnen vorstellen. Sein erhebliches Volumen deutet auf die Vielzahl von Aspekten seines Gegenstandes ­ China. Die Vielzahl der einzelnen Arbeiten belohnt den Leser durch ihren inhaltlichen Reichtum. Warum freilich ein Aufsatz von Lu Cixin über frühe Reaktionen chinesischer Christen auf die geistigen Umbrüche im China der frühen 20er Jahre als Nachdruck Aufnahme fand, ist angesichts anderer, qualifizierterer Darstellungen zu dieser Thematik nicht einsichtig. Es fällt übrigens auf, wie die chinesische Herausforderung im katholischen Raum viel mehr Beachtung findet als im evangelischen, wo es leider bislang keine dem China-Zentrum St. Augustin vergleichbare Institution gibt. Um so größere Bedeutung hat darum die Arbeit des Ökumenischen China-Arbeitskreises für das Verständnis Chinas und der chinesischen Christenheit. Abschließend sei die sorgfältige und gewissenhafte Arbeit der Sinologinnen des China-Zentrums anerkennend erwähnt, die in den Übersetzungen und der Edition sichtbar wird.