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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

181–183

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. v. H. Scheible. Bd. 11: Personen A–E. Bearb. v. H. Scheible unter Mitwirkung v. C. Schneider.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003. 426 S. 4°. Lw. € 258,00. ISBN 3-7728-2257-6.

Rezensent:

Michael Beyer

Seit 1977 erscheint unter der Herausgeberschaft von Heinz Scheible die kritische und kommentierte Gesamtausgabe von »Melanchthons Briefwechsel«. Genauer: 1977 begann das ebenso umfangreiche wie ehrgeizige Editionsprojekt zunächst mit einer Reihe von Bänden, die diesen Briefwechsel vor der eigentlichen Neuedition der Texte durch inhaltlich gliedernde Regesten sowie eine Reihe von Hilfsbüchern (Konkordanzen, Ortsverzeichnis, Itinerar sowie Personenverzeichnis) erschließen (MBW). Seit 1991 erscheinen parallel dazu die Text-Bände mit eigener Zählung (MBW.T 1 ff.). Die Bände beider Reihen, so weit sie bis 1998 verlegt waren, sind in der ThLZ durch den verstorbenen Kirchenhistoriker Joachim Rogge († 2000) regelmäßig und detailliert vorgestellt worden. Zu Genese und Fortgang des Gesamtprojekts liegt aus der Feder Walter Thüringers ein Aufsatz in der Scheible-Festschrift »Dona Melanchthoniana« (Stuttgart-Bad Cannstatt 2001) vor. Da sich die Herausgabe von MBW.T 4 (das Jahr des Augsburger Reichstags 1530) verzögert (vgl. Scheibles Vorwort in MBW.T 5, 7), wurde die Reihe der Textbände zunächst mit MBW.T 5 bzw. 6 fortgesetzt.
Mit diesen beiden Bänden sind zugleich personelle Veränderungen in der Heidelberger Melanchthon-Forschungsstelle anzuzeigen. Zwei langjährige Mitarbeiter Scheibles, Richard Wetzel und Walter Thüringer, sind inzwischen in den Ruhestand getreten. Außerdem ergab sich auf Grund des riesigen Arbeitsaufwandes im Blick auf die ursprünglich angestrebte und bis MBW.T 5 durchgeführte Dokumentation der vollständigen Überlieferung der einzelnen Briefe und Dokumente eine Modifikation innerhalb der Edition. Der Entschluss zur Reduktion dieser Nachweise wirkt sich bereits auf einen Teil der in MBW.T 6 edierten Texte aus und soll ab MBW.T 7 einheitlich durchgeführt werden. Man mag die Entscheidung bedauern, wird sie aber im Interesse von Fortgang und noch fernem Abschluss der gesamten Edition nachvollziehen müssen.

Was eine Dokumentation der gesamten Überlieferung rein umfangsmäßig bedeutet, lässt sich z. B. in Bezug auf Texte aus dem Vorfeld der Wittenberger Konkordie von 1536 ablesen. Die Weimarer Lutherausgabe, Abt. Briefwechsel (WA Br) brauchte für die Edition von drei Dokumenten, die sich auf Luthers Instruktionen an Melanchthon zu Verhandlungen mit Martin Bucer in Kassel im Dezember 1534 beziehen, elf Druckseiten, (WA Br 12, 156–166 [Nr. 4251 f.]). Die in diesem Fall noch nicht reduzierten Stücke der Melanchthonedition benötigen bei umfangmäßig gleichbleibendem Originaltextbestand 20 Seiten (MBW.T 6, 237–250. 251–257 [Nr. 1511.1513]), wobei noch eine knappe Seite Erschließung der Texte im Regestenband (MBW 2, 163 f.) hinzuzurechnen ist. Formal gesehen entspricht das einer Verdoppelung der Information. Will eine Edition die Überlieferung ihrer Texte nicht auf Variantenreservoire auf mehr oder weniger zufälliger Grundlage reduzieren – deren Umfang sich vielleicht gar traditionellen geistesgeschichtlichen Konstruktionen verdankt und aus deren Tradition man sich weiterhin nach Gutdünken bedienen kann –, sondern zugleich die Dokumentation unterschiedlich lebendiger und entsprechend breiter bzw. schmaler Rezeption durch Zeitgenossen und Nachgeborene aufzeigen, dann ist die ursprünglich angestrebte Vollständigkeit der Überlieferung Ausdruck eines vollkommen legitimen, wenngleich überaus hochgreifenden Ansatzes. Die bisher vorliegenden Textbände weisen also im Blick auf die folgenden die Forschung eindrucksvoll darauf hin, dass die Überlieferung immer noch breiter sein wird, als sie in den kommenden Bänden dokumentiert werden kann. Auf die Bearbeiter kommt nun verstärkt das Problem des Auswählens zu, auf die Benutzer die Entwicklung eines entsprechend kritischen Bewusstseins im Umgang mit der Edition. Dass im genannten Fall außer an der Sicherung der Melanchthonbriefe-Überlieferung zusätzlich an breiteren Zugängen zu der teilweise auch schon wieder veralteten Lutherbriefe-Überlieferung gearbeitet wurde – in diesem Fall profitiert hiervon übrigens neben dem Luther-Briefwechsel auch die weitere Erhellung der Luther-Tischreden-Überlieferung –, soll zumindest erwähnt werden.

Dass die Textbände nach 1530 eine sich verstärkende Ausweitung von Melanchthons Gesichtskreis auf die politische und europäische Dimension widerspiegeln, war auf Grund der Situation der Evangelischen nach dem Augsburger Reichstag und im Blick auf die Aktivitäten des sich formierenden Schmalkaldischen Bundes zu erwarten und hatte nicht zuletzt auch schon im Regestenband seinen Niederschlag gefunden. MBW.T 5, 141–146/MBW 2,38 (Nr. 1168) bieten ein eindruckvolles, erstmals aus den Akten ediertes Beispiel für Melanchthons diplomatisches Hintergrundwissen. In diesem Fall hatte er es aus erster Hand und hat sich selbst intensiv mit der Materie beschäftigen müssen. Denn bei dem edierten Aktenstück handelt es sich um eine eigenhändig geschriebene Übersetzung Melanchthons von verschiedenen in Latein verfassten Papieren für Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, die aus der Feder des dänischen Unterhändlers und ehemaligen Wittenberger Studenten Peter Swawe stammten. Hier werden z. B. das europäische Kräfteverhältnis einschließlich der Türkenfrage und Reminiszenzen an die Kaiserwahl von 1519, die unterschiedliche Stellung des französischen und englischen Königs gegenüber den evangelischen Fürsten auf der einen und dem Kaiser auf der anderen Seite sowie etwa die in Glaubensfragen mehrdeutige, in seiner Haltung gegenüber dem Papst aber deutlich ablehnende Überzeugung Heinrichs VIII. von England aus Gesprächsprotokollen wie Briefabschriften unmittelbar lebendig. Dass Melanchthon solches Wissen – bzw. was er davon für bare Münze nahm – weitergab, zeigt ein Brief an Joachim Camerarius, wo rin z. B. Heinrich VIII. trotz dessen wohlklingender Worte für die Sache des Evangeliums, die Melanchthon zuvor übersetzt hatte, schlicht als Verräter vorkommt, der wie der französische König nur das Seine suche. Angesichts dessen und des Umstandes, dass die eigenen Fürsten zu kurz dächten, bliebe nur Christus selbst als Pfleger der Kirche übrig (vgl. MBW.T 5, 147–149/MBW 2, 39 [Nr. 1170]).
Niemanden verwundert es, dass gerade in Briefwechseln, die sowohl die große wie die kleine Welt betreffen, eine Vielzahl von mehr oder weniger bedeutenden und einflussreichen Personen vorkommt. Oft erschließt sich erst aus näherer Kenntnis eines Briefpartners das eigentliche Gewicht von Texten für Absender, Adressat oder das allgemeine Interesse. Innerhalb des Erschließungsteils des Melanchthon-Briefwechsels nehmen deshalb die Bände des schlicht mit »Personen« beschriebenen Verzeichnisses einen besonderen Rang ein und dürfen – angesichts der bekannten prosopographischen Neigungen und Kenntnisse Scheibles – wohl als krönender Abschluss der Erschließung gelten. Von vier geplanten »Personen-Bänden« liegen jetzt zwei vor, die die Namen und ihr Vorkommen von A bis E bzw. von F bis K erfassen, Kurzbiographien beifügen sowie weiterführende Literatur von Monographien bis Lexikonartikeln angeben. In Bezug auf die Zeitgenossen Melanchthons ist das Personenverzeichnis wohl nur mit den »Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and Reformation (Toronto u. a. 1985–1987)« vergleichbar: der biographischen Erschließung der englischen Gesamtausgabe der Werke des Erasmus von Rotterdam. Durch die Aufnahme aller erwähnten Namen, z. B. aus Antike und Mythologie sowie aus der Bibel, ist es darüber hinaus geeignet, Umfang und Grenzen von Melanchthons reichem Wissen zu rekonstruieren. Gerade im Blick auf die oben erwähnten, teilweise an Namen reichen Beispiele aus dem Briefwechsel muss der Entschluss zu einem solch informationsreichen Personenverzeichnis im Vorfeld der Edition dankbar gewürdigt werden. In WA ist es z. B. trotz des Personenregisters bzw. neuerdings durch die Möglichkeiten der elektronischen Recherche nur mit Mühe möglich, aus den vielen in Fußnoten verstreuten Angaben zu einer Person ein Biogramm bzw. zugehörige Literatur zusammenzustellen. Und dass auch gute Lexika und eine Vielzahl anderer Hilfsmittel häufig nicht den Stand erreichen, der in »Personen« dokumentiert ist, wird jeder nachvollziehen können, der sich einmal auf die Suche nach biographischen Daten begeben musste.
Es bleibt zu wünschen, dass Heinz Scheible, der nach seinem formalen Eintritt in das Ruhestandsalter über mehrere Jahre die kommissarische Leitung der Melanchthon-Forschungsstelle übernommen hatte, genügend Kraft und Unterstützung findet, um gerade dieses wichtige Hilfsmittel abschließen zu können.